die Vereinigung mit einer ganzen und vollständigen Men- schennatur diese nach allen Theilen habe erlöst werden können 8).
Doch es konnte nicht bloss die eine oder andere Seite im Wesen Christi zurückgestellt, sondern auch in Bezug auf ihre Vereinigung in ihm, und zwar wieder auf entge- gengesezte Weise, gefehlt werden. Die andächtige Begei- sterung Vieler glaubte, das neugeschlungene Band zwischen Himmel und Erde nicht eng genug anziehen zu können: in Christo wollten sie Gottheit und Menschheit nicht mehr unterscheiden, und erkannten in ihm, wie er als Eine Per- son erschienen war, auch nur Eine Natur, die des fleisch- gewordenen Gottessohnes, an 9). Der Besonnenheit Ande- rer war eine solche Vermischung des Göttlichen und Mensch- lichen anstössig, es schien ihnen frevelhaft, zu sagen, dass eine menschliche Mutter Gott geboren habe: nur den Men- schen habe sie geboren, welchen sich der Sohn Gottes zum Tempel auserwählt hatte, und es seien in Christo zwei Na- turen zwar der Verehrung nach verknüpft, aber dem We- sen nach noch immer verschieden 10). Der Kirche schien auf beide Weise das Mysterium der Menschwerdung ge- fährdet: wurden beide Naturen bleibend getrennt gehalten, so war die Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen, der innerste Lebenspunkt des Christenthums, zerstört; wur- de eine Vermischung angenommen, so war keine von bei- den Naturen als solche einer Vereinigung mit der andern fähig, somit gleichfalls keine wahre Einheit beider erreicht. Beide Meinungen wurden daher, die leztere in Eutyches, für die erstere nicht ebenso mit Recht Nestorius, ver-
8) Gregor. Naz. Or. 51. p. 740. B. (bei Münscher, S. 275.): to gar aproslepton atherapeuton; o de enotai to theo, touto kai sozetai.
9) b. Münscher, §. 80 ff.
10) Ebendas.
Schluſsabhandlung. §. 141.
die Vereinigung mit einer ganzen und vollständigen Men- schennatur diese nach allen Theilen habe erlöst werden können 8).
Doch es konnte nicht bloſs die eine oder andere Seite im Wesen Christi zurückgestellt, sondern auch in Bezug auf ihre Vereinigung in ihm, und zwar wieder auf entge- gengesezte Weise, gefehlt werden. Die andächtige Begei- sterung Vieler glaubte, das neugeschlungene Band zwischen Himmel und Erde nicht eng genug anziehen zu können: in Christo wollten sie Gottheit und Menschheit nicht mehr unterscheiden, und erkannten in ihm, wie er als Eine Per- son erschienen war, auch nur Eine Natur, die des fleisch- gewordenen Gottessohnes, an 9). Der Besonnenheit Ande- rer war eine solche Vermischung des Göttlichen und Mensch- lichen anstössig, es schien ihnen frevelhaft, zu sagen, daſs eine menschliche Mutter Gott geboren habe: nur den Men- schen habe sie geboren, welchen sich der Sohn Gottes zum Tempel auserwählt hatte, und es seien in Christo zwei Na- turen zwar der Verehrung nach verknüpft, aber dem We- sen nach noch immer verschieden 10). Der Kirche schien auf beide Weise das Mysterium der Menschwerdung ge- fährdet: wurden beide Naturen bleibend getrennt gehalten, so war die Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen, der innerste Lebenspunkt des Christenthums, zerstört; wur- de eine Vermischung angenommen, so war keine von bei- den Naturen als solche einer Vereinigung mit der andern fähig, somit gleichfalls keine wahre Einheit beider erreicht. Beide Meinungen wurden daher, die leztere in Eutyches, für die erstere nicht ebenso mit Recht Nestorius, ver-
8) Gregor. Naz. Or. 51. p. 740. B. (bei Münscher, S. 275.): τὸ γὰρ ἀπρόσληπτον ἀϑεράπευτον· ὅ δε ἥνωται τῷ ϑεῷ, τοῦτο καὶ σώζεται.
9) b. Münscher, §. 80 ff.
10) Ebendas.
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Schluſsabhandlung. §. 141.
die Vereinigung mit einer ganzen und vollständigen Men-
schennatur diese nach allen Theilen habe erlöst werden
können 8).
Doch es konnte nicht bloſs die eine oder andere Seite
im Wesen Christi zurückgestellt, sondern auch in Bezug
auf ihre Vereinigung in ihm, und zwar wieder auf entge-
gengesezte Weise, gefehlt werden. Die andächtige Begei-
sterung Vieler glaubte, das neugeschlungene Band zwischen
Himmel und Erde nicht eng genug anziehen zu können:
in Christo wollten sie Gottheit und Menschheit nicht mehr
unterscheiden, und erkannten in ihm, wie er als Eine Per-
son erschienen war, auch nur Eine Natur, die des fleisch-
gewordenen Gottessohnes, an 9). Der Besonnenheit Ande-
rer war eine solche Vermischung des Göttlichen und Mensch-
lichen anstössig, es schien ihnen frevelhaft, zu sagen, daſs
eine menschliche Mutter Gott geboren habe: nur den Men-
schen habe sie geboren, welchen sich der Sohn Gottes zum
Tempel auserwählt hatte, und es seien in Christo zwei Na-
turen zwar der Verehrung nach verknüpft, aber dem We-
sen nach noch immer verschieden 10). Der Kirche schien
auf beide Weise das Mysterium der Menschwerdung ge-
fährdet: wurden beide Naturen bleibend getrennt gehalten,
so war die Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen,
der innerste Lebenspunkt des Christenthums, zerstört; wur-
de eine Vermischung angenommen, so war keine von bei-
den Naturen als solche einer Vereinigung mit der andern
fähig, somit gleichfalls keine wahre Einheit beider erreicht.
Beide Meinungen wurden daher, die leztere in Eutyches,
für die erstere nicht ebenso mit Recht Nestorius, ver-
8) Gregor. Naz. Or. 51. p. 740. B. (bei Münscher, S. 275.):
τὸ γὰρ ἀπρόσληπτον ἀϑεράπευτον· ὅ δε ἥνωται τῷ ϑεῷ, τοῦτο
καὶ σώζεται.
9) b. Münscher, §. 80 ff.
10) Ebendas.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 695. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/714>, abgerufen am 22.11.2024.
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