Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Viertes Kapitel. §. 135. dass Jesus, wie Michaelis sich ausdrückt, gerade durchdie Poren des Holzes an der Thüre in das Zimmer ge- drungen sei, sondern ihre Meinung ist nur, die Thüren seien verschlossen gewesen und geblieben, und doch habe Jesus auf Einmal im Zimmer gestanden, welchem also Wände, Thüren, kurz alle materiellen Zwischenlagen, kein Hinderniss gewesen seien, hereinzukommen. Statt ihrer un- billigen Forderung an uns also, ihnen im Texte des Jo- hannes eine Bestimmung nachzuweisen, welche dieser gar nicht geben will, müssen wir vielmehr von ihnen verlangen, uns zu erklären, warum er das wunderbare Aufgehen der Thüren, wenn er ein solches voraussezte, nicht her- vorgehoben hat? In dieser Hinsicht ist es sehr unglücklich, dass Calvin sich auf A. G. 12, 6. ff. beruft, wo von Pe- trus erzählt werde, er sei aus dem verschlossenen Kerker entkommen, ohne dass jemand daran denke, die Thüren seien verschlossen geblieben, und er durch die Bretter hin- durchgedrungen. Natürlich nicht, weil hier von der ei- sernen Gefängnisspforte, welche zur Stadt führte, ausdrück- lich gesagt wird: etis automate enoikhthe autois (V. 10), eine Bemerkung, welche, weil sie eine schöne Anschauung des Wunders giebt, gewiss auch unser Evangelist nicht beidemale weggelassen haben würde, wenn er an ein wun- derbares Aufspringen der Thüre gedacht hätte. -- So we- nig aber in dieser johanneischen Erzählung das Überna- türliche sich beseitigen oder vermindern lässt: so wenig will die natürliche Erklärung der Ausdrücke genügen, mit welchen Lukas das Kommen und Gehen Jesu bezeichnet. Denn wenn nach diesem Evangelisten sein Kommen ein isasthai en meso ton matheton, sein Gehen ein aphantos ginesthai ap auton war: so lässt das Zusammentreffen die- ser Züge, miteingerechnet noch der Schrecken der Jün- ger und ihren Wahn, er sei ein Gespenst, schwerlich an etwas Anderes, als an ein wunderbares Erscheinen den- ken. Ohnehin, wenn man sich das zwar etwa noch vorstel- Viertes Kapitel. §. 135. daſs Jesus, wie Michaelis sich ausdrückt, gerade durchdie Poren des Holzes an der Thüre in das Zimmer ge- drungen sei, sondern ihre Meinung ist nur, die Thüren seien verschlossen gewesen und geblieben, und doch habe Jesus auf Einmal im Zimmer gestanden, welchem also Wände, Thüren, kurz alle materiellen Zwischenlagen, kein Hinderniſs gewesen seien, hereinzukommen. Statt ihrer un- billigen Forderung an uns also, ihnen im Texte des Jo- hannes eine Bestimmung nachzuweisen, welche dieser gar nicht geben will, müssen wir vielmehr von ihnen verlangen, uns zu erklären, warum er das wunderbare Aufgehen der Thüren, wenn er ein solches voraussezte, nicht her- vorgehoben hat? In dieser Hinsicht ist es sehr unglücklich, daſs Calvin sich auf A. G. 12, 6. ff. beruft, wo von Pe- trus erzählt werde, er sei aus dem verschlossenen Kerker entkommen, ohne daſs jemand daran denke, die Thüren seien verschlossen geblieben, und er durch die Bretter hin- durchgedrungen. Natürlich nicht, weil hier von der ei- sernen Gefängniſspforte, welche zur Stadt führte, ausdrück- lich gesagt wird: ἥτις αὐτομάτη ἠνοίχϑη αὐτοῖς (V. 10), eine Bemerkung, welche, weil sie eine schöne Anschauung des Wunders giebt, gewiſs auch unser Evangelist nicht beidemale weggelassen haben würde, wenn er an ein wun- derbares Aufspringen der Thüre gedacht hätte. — So we- nig aber in dieser johanneischen Erzählung das Überna- türliche sich beseitigen oder vermindern läſst: so wenig will die natürliche Erklärung der Ausdrücke genügen, mit welchen Lukas das Kommen und Gehen Jesu bezeichnet. Denn wenn nach diesem Evangelisten sein Kommen ein ἵςασϑαι ἐν μέσῳ τῶν μαϑητῶν, sein Gehen ein ἄφαντος γίνεσϑαι ἀπ̕ αὐτῶν war: so läſst das Zusammentreffen die- ser Züge, miteingerechnet noch der Schrecken der Jün- ger und ihren Wahn, er sei ein Gespenst, schwerlich an etwas Anderes, als an ein wunderbares Erscheinen den- ken. 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Viertes Kapitel. §. 135.
daſs Jesus, wie Michaelis sich ausdrückt, gerade durch
die Poren des Holzes an der Thüre in das Zimmer ge-
drungen sei, sondern ihre Meinung ist nur, die Thüren
seien verschlossen gewesen und geblieben, und doch habe
Jesus auf Einmal im Zimmer gestanden, welchem also
Wände, Thüren, kurz alle materiellen Zwischenlagen, kein
Hinderniſs gewesen seien, hereinzukommen. Statt ihrer un-
billigen Forderung an uns also, ihnen im Texte des Jo-
hannes eine Bestimmung nachzuweisen, welche dieser gar
nicht geben will, müssen wir vielmehr von ihnen verlangen,
uns zu erklären, warum er das wunderbare Aufgehen
der Thüren, wenn er ein solches voraussezte, nicht her-
vorgehoben hat? In dieser Hinsicht ist es sehr unglücklich,
daſs Calvin sich auf A. G. 12, 6. ff. beruft, wo von Pe-
trus erzählt werde, er sei aus dem verschlossenen Kerker
entkommen, ohne daſs jemand daran denke, die Thüren
seien verschlossen geblieben, und er durch die Bretter hin-
durchgedrungen. Natürlich nicht, weil hier von der ei-
sernen Gefängniſspforte, welche zur Stadt führte, ausdrück-
lich gesagt wird: ἥτις αὐτομάτη ἠνοίχϑη αὐτοῖς (V. 10),
eine Bemerkung, welche, weil sie eine schöne Anschauung
des Wunders giebt, gewiſs auch unser Evangelist nicht
beidemale weggelassen haben würde, wenn er an ein wun-
derbares Aufspringen der Thüre gedacht hätte. — So we-
nig aber in dieser johanneischen Erzählung das Überna-
türliche sich beseitigen oder vermindern läſst: so wenig
will die natürliche Erklärung der Ausdrücke genügen, mit
welchen Lukas das Kommen und Gehen Jesu bezeichnet.
Denn wenn nach diesem Evangelisten sein Kommen ein
ἵςασϑαι ἐν μέσῳ τῶν μαϑητῶν, sein Gehen ein ἄφαντος
γίνεσϑαι ἀπ̕ αὐτῶν war: so läſst das Zusammentreffen die-
ser Züge, miteingerechnet noch der Schrecken der Jün-
ger und ihren Wahn, er sei ein Gespenst, schwerlich an
etwas Anderes, als an ein wunderbares Erscheinen den-
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