Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Viertes Kapitel. §. 134. Jesum weniger inficirten Galiläa sich der Grund jenes Ver-schliessens, der phobos ton Ioudaion, nicht ebenso denken lässt. -- Erst da also, wo mit der acht Tage nach der Auferstehung erfolgten die frühern judäischen Erscheinun- gen zu Ende sind, bekämen wir Raum, die galiläischen des Matthäus und Johannes einzufügen. Mit diesen hat es nun aber die eigene Bewandtniss, dass jede von beiden die erste, und die des Matthäus noch ausserdem zugleich die lezte zu sein den Anspruch macht 16). Durch seine ganze Darstellung nicht nur, sondern ausdrücklich durch den Zusaz: ou etaxato autois o I. zu dem galiläischen oros, auf welches die Eilfe giengen, bezeichnet Matthäus diese Er- scheinung als diejenige, auf welche Jesus am Auferste- hungsmorgen, zuerst durch den Engel, dann persönlich, verwiesen hatte; nun aber verabredet man nicht eine zweite Zusammenkunft in einer Gegend, indem man die erste un- bestimmt lässt: folglich muss, da ein unvorhergesehenes früheres Zusammentreffen bei der evangelischen Vorstellung von Jesu sich nicht denken lässt, jene Zusammenkunft, weil die verabredete, auch die erste galiläische gewesen sein. Kann somit die Erscheinung am See Tiberias bei Johan- nes unmöglich vor die auf dem Berg bei Matthäus ge- sezt werden: so will die leztere jene ebensowenig nach sich dulden, da sie einen förmlichen Abschied Jesu von seinen Jüngern enthält; auch wüsste man gar nicht, wie man die johanneische Erscheinung nach der eigenen Angabe des Evangelisten als die dritte phanerosis des auferstande- nen Christus vor seinen mathetais (21, 14.) herausbrin- gen wollte, wenn auch noch jene des ersten Evange- liums ihr vorangegangen sein sollte. Indess, auch wenn man jene voranstellt, bleibt die Verlegenheit mit die- ser johanneischen Erzählung gross genug. Zwar die Er- scheinungen vor den Weibern dürfen wir abrechnen, weil 16) Lessing, Duplik, S. 199 ff. Das Leben Jesu II. Band. 40
Viertes Kapitel. §. 134. Jesum weniger inficirten Galiläa sich der Grund jenes Ver-schlieſsens, der φόβος τῶν Ἰουδαίων, nicht ebenso denken läſst. — Erst da also, wo mit der acht Tage nach der Auferstehung erfolgten die frühern judäischen Erscheinun- gen zu Ende sind, bekämen wir Raum, die galiläischen des Matthäus und Johannes einzufügen. Mit diesen hat es nun aber die eigene Bewandtniſs, daſs jede von beiden die erste, und die des Matthäus noch ausserdem zugleich die lezte zu sein den Anspruch macht 16). Durch seine ganze Darstellung nicht nur, sondern ausdrücklich durch den Zusaz: οὖ ἐτάξατο αὐτοῖς ὁ Ἰ. zu dem galiläischen ὄρος, auf welches die Eilfe giengen, bezeichnet Matthäus diese Er- scheinung als diejenige, auf welche Jesus am Auferste- hungsmorgen, zuerst durch den Engel, dann persönlich, verwiesen hatte; nun aber verabredet man nicht eine zweite Zusammenkunft in einer Gegend, indem man die erste un- bestimmt läſst: folglich muſs, da ein unvorhergesehenes früheres Zusammentreffen bei der evangelischen Vorstellung von Jesu sich nicht denken läſst, jene Zusammenkunft, weil die verabredete, auch die erste galiläische gewesen sein. Kann somit die Erscheinung am See Tiberias bei Johan- nes unmöglich vor die auf dem Berg bei Matthäus ge- sezt werden: so will die leztere jene ebensowenig nach sich dulden, da sie einen förmlichen Abschied Jesu von seinen Jüngern enthält; auch wüſste man gar nicht, wie man die johanneische Erscheinung nach der eigenen Angabe des Evangelisten als die dritte φανέρωσις des auferstande- nen Christus vor seinen μαϑηταῖς (21, 14.) herausbrin- gen wollte, wenn auch noch jene des ersten Evange- liums ihr vorangegangen sein sollte. Indeſs, auch wenn man jene voranstellt, bleibt die Verlegenheit mit die- ser johanneischen Erzählung groſs genug. Zwar die Er- scheinungen vor den Weibern dürfen wir abrechnen, weil 16) Lessing, Duplik, S. 199 ff. Das Leben Jesu II. Band. 40
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Viertes Kapitel. §. 134.
Jesum weniger inficirten Galiläa sich der Grund jenes Ver-
schlieſsens, der φόβος τῶν Ἰουδαίων, nicht ebenso denken
läſst. — Erst da also, wo mit der acht Tage nach der
Auferstehung erfolgten die frühern judäischen Erscheinun-
gen zu Ende sind, bekämen wir Raum, die galiläischen
des Matthäus und Johannes einzufügen. Mit diesen hat
es nun aber die eigene Bewandtniſs, daſs jede von beiden
die erste, und die des Matthäus noch ausserdem zugleich
die lezte zu sein den Anspruch macht 16). Durch seine
ganze Darstellung nicht nur, sondern ausdrücklich durch den
Zusaz: οὖ ἐτάξατο αὐτοῖς ὁ Ἰ. zu dem galiläischen ὄρος, auf
welches die Eilfe giengen, bezeichnet Matthäus diese Er-
scheinung als diejenige, auf welche Jesus am Auferste-
hungsmorgen, zuerst durch den Engel, dann persönlich,
verwiesen hatte; nun aber verabredet man nicht eine zweite
Zusammenkunft in einer Gegend, indem man die erste un-
bestimmt läſst: folglich muſs, da ein unvorhergesehenes
früheres Zusammentreffen bei der evangelischen Vorstellung
von Jesu sich nicht denken läſst, jene Zusammenkunft, weil
die verabredete, auch die erste galiläische gewesen sein.
Kann somit die Erscheinung am See Tiberias bei Johan-
nes unmöglich vor die auf dem Berg bei Matthäus ge-
sezt werden: so will die leztere jene ebensowenig nach
sich dulden, da sie einen förmlichen Abschied Jesu von
seinen Jüngern enthält; auch wüſste man gar nicht, wie man
die johanneische Erscheinung nach der eigenen Angabe
des Evangelisten als die dritte φανέρωσις des auferstande-
nen Christus vor seinen μαϑηταῖς (21, 14.) herausbrin-
gen wollte, wenn auch noch jene des ersten Evange-
liums ihr vorangegangen sein sollte. Indeſs, auch wenn
man jene voranstellt, bleibt die Verlegenheit mit die-
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