Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Dritter Abschnitt. haben von der Hand weisen müssen. Wie aber bei denFeinden Jesu diese Kenntniss, so ist bei seinen Freunden, den Aposteln und übrigen Evangelisten ausser Matthäus, ihr Schweigen von einem ihrer Sache so günstigen Umstand nicht zu begreifen. Zwar das ist zu modern, was der Wolfenbüttler den Jüngern anmuthet, sie hätten sich dar- über, dass eine Bewachung des Grabes angeordnet worden, alsbald Brief und Siegel von Pilatus erbitten müssen: doch so viel bleibt, dass es auffallen muss, in der apostolischen Verkündigung nirgends eine Berufung auf eine so schla- gende Thatsache zu finden, und auch in den Evangelien, ausser dem ersten, jede Spur davon zu vermissen. Man hat diess Stillschweigen daraus zu erklären versucht, dass ja durch die Bestechung der Wache von Seiten des Syne- driums die Berufung auf sie eine fruchtlose geworden sei3): allein um solcher offenbaren Lüge willen giebt man die Wahrheit nicht sogleich auf, und jedenfalls in der Ver- antwortung der Anhänger Jesu vor dem Synedrium muss- te die Erwähnung jener Thatsache eine schlagende Waffe sein. Halb verloren giebt man schon, wenn man sich da- hin zurückzieht, die Jünger haben wohl von dem wahren Hergang nicht sogleich, sondern erst spät, als die Wächter anfiengen, denselben auszuschwatzen, Kenntniss bekom- men 4). Denn brachten die Wächter im Augenblick auch bloss das Mährchen von dem Diebstahl vor, und gaben al- so zu, dass sie bei'm Grabe aufgestellt gewesen: so konn- ten die Anhänger Jesu sich den wahren Thatbestand schon construiren, und sich dreist auf die Wächter berufen, wel- che von etwas ganz Anderem, als einem Leichendiebstahl, müssten Zeugen gewesen sein. Doch damit man nicht etwa die Ungültigkeit des Arguments aus der bloss negati- 3) Michaelis, Begräbniss- und Auferstehungsgeschichte, S. 206. Olshausen, 2, S. 506. 4) Michaelis, a. a. O.
Dritter Abschnitt. haben von der Hand weisen müssen. Wie aber bei denFeinden Jesu diese Kenntniſs, so ist bei seinen Freunden, den Aposteln und übrigen Evangelisten ausser Matthäus, ihr Schweigen von einem ihrer Sache so günstigen Umstand nicht zu begreifen. Zwar das ist zu modern, was der Wolfenbüttler den Jüngern anmuthet, sie hätten sich dar- über, daſs eine Bewachung des Grabes angeordnet worden, alsbald Brief und Siegel von Pilatus erbitten müssen: doch so viel bleibt, daſs es auffallen muſs, in der apostolischen Verkündigung nirgends eine Berufung auf eine so schla- gende Thatsache zu finden, und auch in den Evangelien, ausser dem ersten, jede Spur davon zu vermissen. Man hat dieſs Stillschweigen daraus zu erklären versucht, daſs ja durch die Bestechung der Wache von Seiten des Syne- driums die Berufung auf sie eine fruchtlose geworden sei3): allein um solcher offenbaren Lüge willen giebt man die Wahrheit nicht sogleich auf, und jedenfalls in der Ver- antwortung der Anhänger Jesu vor dem Synedrium muſs- te die Erwähnung jener Thatsache eine schlagende Waffe sein. Halb verloren giebt man schon, wenn man sich da- hin zurückzieht, die Jünger haben wohl von dem wahren Hergang nicht sogleich, sondern erst spät, als die Wächter anfiengen, denselben auszuschwatzen, Kenntniſs bekom- men 4). Denn brachten die Wächter im Augenblick auch bloſs das Mährchen von dem Diebstahl vor, und gaben al- so zu, daſs sie bei'm Grabe aufgestellt gewesen: so konn- ten die Anhänger Jesu sich den wahren Thatbestand schon construiren, und sich dreist auf die Wächter berufen, wel- che von etwas ganz Anderem, als einem Leichendiebstahl, müſsten Zeugen gewesen sein. Doch damit man nicht etwa die Ungültigkeit des Arguments aus der bloſs negati- 3) Michaelis, Begräbniss- und Auferstehungsgeschichte, S. 206. Olshausen, 2, S. 506. 4) Michaelis, a. a. O.
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Dritter Abschnitt.
haben von der Hand weisen müssen. Wie aber bei den
Feinden Jesu diese Kenntniſs, so ist bei seinen Freunden,
den Aposteln und übrigen Evangelisten ausser Matthäus,
ihr Schweigen von einem ihrer Sache so günstigen Umstand
nicht zu begreifen. Zwar das ist zu modern, was der
Wolfenbüttler den Jüngern anmuthet, sie hätten sich dar-
über, daſs eine Bewachung des Grabes angeordnet worden,
alsbald Brief und Siegel von Pilatus erbitten müssen: doch
so viel bleibt, daſs es auffallen muſs, in der apostolischen
Verkündigung nirgends eine Berufung auf eine so schla-
gende Thatsache zu finden, und auch in den Evangelien,
ausser dem ersten, jede Spur davon zu vermissen. Man
hat dieſs Stillschweigen daraus zu erklären versucht, daſs
ja durch die Bestechung der Wache von Seiten des Syne-
driums die Berufung auf sie eine fruchtlose geworden sei 3):
allein um solcher offenbaren Lüge willen giebt man die
Wahrheit nicht sogleich auf, und jedenfalls in der Ver-
antwortung der Anhänger Jesu vor dem Synedrium muſs-
te die Erwähnung jener Thatsache eine schlagende Waffe
sein. Halb verloren giebt man schon, wenn man sich da-
hin zurückzieht, die Jünger haben wohl von dem wahren
Hergang nicht sogleich, sondern erst spät, als die Wächter
anfiengen, denselben auszuschwatzen, Kenntniſs bekom-
men 4). Denn brachten die Wächter im Augenblick auch
bloſs das Mährchen von dem Diebstahl vor, und gaben al-
so zu, daſs sie bei'm Grabe aufgestellt gewesen: so konn-
ten die Anhänger Jesu sich den wahren Thatbestand schon
construiren, und sich dreist auf die Wächter berufen, wel-
che von etwas ganz Anderem, als einem Leichendiebstahl,
müſsten Zeugen gewesen sein. Doch damit man nicht
etwa die Ungültigkeit des Arguments aus der bloſs negati-
3) Michaelis, Begräbniss- und Auferstehungsgeschichte, S. 206.
Olshausen, 2, S. 506.
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