Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Drittes Kapitel. §. 128. was sich gottverlassen fühlte, da dieser ja eben die Ein-heit und Unzertrenntheit des Göttlichen und Menschlichen ist. So durch den Widerspruch dieser supranaturalisti- schen Erklärung zu der natürlichen Ableitung jenes Aus- rufs aus dem Gefühl des äusseren Leidens zurückgewor- fen, und doch von der Annahme, dass durch dieses Jesus so tief sollte gebeugt gewesen sein, abgestossen, hat man dem Ausruf einen milderen Sinn unterzulegen versucht. Da es die Anfangsworte des für diesen lezten Abschnitt im Leben Jesu classischen Ps. 22. sind, dieser Psalm aber mit klagender Schilderung tiefsten Leidens zwar beginnt, doch im Verlauf zu froher Hoffnung der Rettung sich aufschwingt: so hat man angenommen, die Worte, welche Jesus unmit- telbar ausspricht, geben nicht seine ganze Empfindung, sondern, indem er den ersten Vers ausspreche, citire er damit den ganzen Psalm, namentlich auch seinen freudi- gen Schluss, gleich als wollte er sagen: auch ich zwar, wie der Verfasser jenes Psalms, scheine jezt von Gott ver- lassen, aber an mir, wie an ihm, wird sich nur um so mehr die Hülfe Gottes verherrlichen 36). Allein, that Je- sus jenen Ausruf in Bezug auf die Umstehenden, um sie der baldigen Wendung seines Schicksals zu versichern: so hätte er es auf die zweckwidrigste Weise angegriffen, wenn er gerade diejenigen Worte des Psalms ausgespro- chen hätte, welche vom tiefsten Elend handeln, und er hätte statt des ersten Verses eher einen der Verse vom 10ten bis 12ten, oder vom 20ten bis zum Ende anführen müssen; wollte er aber durch jenen Ruf nur seiner eignen Empfindung Luft machen: so würde er nicht diesen Vers gewählt haben, wenn nicht eben das in diesem, sondern das in den folgenden ausgesprochene Gefühl sein eigenes in diesem Augenblick gewesen wäre. War es aber sein 36) So Paulus, Gratz z. d. St. Schleiermacher, Glaubenslehre,
2, S. 154. Anm. Drittes Kapitel. §. 128. was sich gottverlassen fühlte, da dieser ja eben die Ein-heit und Unzertrenntheit des Göttlichen und Menschlichen ist. So durch den Widerspruch dieser supranaturalisti- schen Erklärung zu der natürlichen Ableitung jenes Aus- rufs aus dem Gefühl des äusseren Leidens zurückgewor- fen, und doch von der Annahme, daſs durch dieses Jesus so tief sollte gebeugt gewesen sein, abgestossen, hat man dem Ausruf einen milderen Sinn unterzulegen versucht. Da es die Anfangsworte des für diesen lezten Abschnitt im Leben Jesu classischen Ps. 22. sind, dieser Psalm aber mit klagender Schilderung tiefsten Leidens zwar beginnt, doch im Verlauf zu froher Hoffnung der Rettung sich aufschwingt: so hat man angenommen, die Worte, welche Jesus unmit- telbar ausspricht, geben nicht seine ganze Empfindung, sondern, indem er den ersten Vers ausspreche, citire er damit den ganzen Psalm, namentlich auch seinen freudi- gen Schluſs, gleich als wollte er sagen: auch ich zwar, wie der Verfasser jenes Psalms, scheine jezt von Gott ver- lassen, aber an mir, wie an ihm, wird sich nur um so mehr die Hülfe Gottes verherrlichen 36). Allein, that Je- sus jenen Ausruf in Bezug auf die Umstehenden, um sie der baldigen Wendung seines Schicksals zu versichern: so hätte er es auf die zweckwidrigste Weise angegriffen, wenn er gerade diejenigen Worte des Psalms ausgespro- chen hätte, welche vom tiefsten Elend handeln, und er hätte statt des ersten Verses eher einen der Verse vom 10ten bis 12ten, oder vom 20ten bis zum Ende anführen müssen; wollte er aber durch jenen Ruf nur seiner eignen Empfindung Luft machen: so würde er nicht diesen Vers gewählt haben, wenn nicht eben das in diesem, sondern das in den folgenden ausgesprochene Gefühl sein eigenes in diesem Augenblick gewesen wäre. War es aber sein 36) So Paulus, Gratz z. d. St. Schleiermacher, Glaubenslehre,
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Drittes Kapitel. §. 128.
was sich gottverlassen fühlte, da dieser ja eben die Ein-
heit und Unzertrenntheit des Göttlichen und Menschlichen
ist. So durch den Widerspruch dieser supranaturalisti-
schen Erklärung zu der natürlichen Ableitung jenes Aus-
rufs aus dem Gefühl des äusseren Leidens zurückgewor-
fen, und doch von der Annahme, daſs durch dieses Jesus
so tief sollte gebeugt gewesen sein, abgestossen, hat man
dem Ausruf einen milderen Sinn unterzulegen versucht.
Da es die Anfangsworte des für diesen lezten Abschnitt im
Leben Jesu classischen Ps. 22. sind, dieser Psalm aber mit
klagender Schilderung tiefsten Leidens zwar beginnt, doch
im Verlauf zu froher Hoffnung der Rettung sich aufschwingt:
so hat man angenommen, die Worte, welche Jesus unmit-
telbar ausspricht, geben nicht seine ganze Empfindung,
sondern, indem er den ersten Vers ausspreche, citire er
damit den ganzen Psalm, namentlich auch seinen freudi-
gen Schluſs, gleich als wollte er sagen: auch ich zwar,
wie der Verfasser jenes Psalms, scheine jezt von Gott ver-
lassen, aber an mir, wie an ihm, wird sich nur um so
mehr die Hülfe Gottes verherrlichen 36). Allein, that Je-
sus jenen Ausruf in Bezug auf die Umstehenden, um sie
der baldigen Wendung seines Schicksals zu versichern:
so hätte er es auf die zweckwidrigste Weise angegriffen,
wenn er gerade diejenigen Worte des Psalms ausgespro-
chen hätte, welche vom tiefsten Elend handeln, und er
hätte statt des ersten Verses eher einen der Verse vom
10ten bis 12ten, oder vom 20ten bis zum Ende anführen
müssen; wollte er aber durch jenen Ruf nur seiner eignen
Empfindung Luft machen: so würde er nicht diesen Vers
gewählt haben, wenn nicht eben das in diesem, sondern
das in den folgenden ausgesprochene Gefühl sein eigenes
in diesem Augenblick gewesen wäre. War es aber sein
36) So Paulus, Gratz z. d. St. Schleiermacher, Glaubenslehre,
2, S. 154. Anm.
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