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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Dritter Abschnitt.
eis ten dipsan mou des Orakels ausdrücklich erfüllt war, so
hielt es der Verfasser des vierten Evangeliums für wahr-
scheinlich, dass Jesus auch wirklich die Empfindung des
Durstes geäussert, d. h. dipso gerufen habe; ein Ruf, den
er ausdrücklich als Erfüllung der graphe, worunter ohne
Zweifel die genannte Psalmstelle (vgl. Ps. 22, 16.) ver-
standen ist, bezeichnet, und zwar, indem er das ina te-
leiothe e graphe durch eidos o Iesous, oti panta ede te-
telesai einleitet, so scheint er fast sagen zu wollen, die
Erfüllung der Weissagung sei die eigene Absicht Jesu bei
jenem Ausruf gewesen: allein mit solchem typologischen
Spiel wird kein am Kreuz im Todeskampf Begriffener sich
abgeben, sondern nur sein in ruhiger Lage befindlicher
Biograph. Indess, auch hiedurch war immer nur die eine
Hälfte jenes messianischen Verses, die auf den Essig be-
zügliche, erfüllt: die von der Galle handelnde, welche als
Inbegriff aller Bitterkeit zu einer Beziehung auf den lei-
denden Messias ganz besonders geeignet schien, war noch
übrig. Zwar, dass khole als broma gegeben worden sei,
was die Psalmstelle strenggenommen verlangte, blieb als un-
denkbar bei Seite gestellt: wohl aber schien es dem ersten
Evangelisten, oder wem er hier folgt, thunlich, die Galle
als Ingredienz unter den Essig zu mischen, eine Mischung,
welche dann freilich Jesus, des übeln Geschmacks wegen,
nicht trinken konnte. Der zweite Evangelist, mehr auf
den pragmatischen als auf den prophetischen Zusammen-
hang bedacht, machte dann, mit Beziehung auf eine jüdi-
sche Sitte, aus dem Essig mit Galle bittern Myrrhenwein,
und liess Jesum diesen, ohne Zweifel aus Scheue vor Be-
räubung, ausschlagen. Da aber diesen beiden Evangelisten
neben der Erzählung von dem mit Galle gemischten Essig
auch noch die ursprüngliche, von blossem Essig, zugekom-
men war: so wollten sie diese durch jene nicht verdrän-
gen lassen, und stellten daher beide nebeneinander. Hie-
mit soll keineswegs geleugnet werden, dass Jesu vor der

Dritter Abschnitt.
εἰς τὴν δίψαν μου des Orakels ausdrücklich erfüllt war, so
hielt es der Verfasser des vierten Evangeliums für wahr-
scheinlich, daſs Jesus auch wirklich die Empfindung des
Durstes geäussert, d. h. διψῶ gerufen habe; ein Ruf, den
er ausdrücklich als Erfüllung der γραφὴ, worunter ohne
Zweifel die genannte Psalmstelle (vgl. Ps. 22, 16.) ver-
standen ist, bezeichnet, und zwar, indem er das ἵνα τε-
λειωϑῇ ἡ γραφὴ durch εἰδὼς ὁ Ἰησοῦς, ὅτι πάντα ἤδη τε-
τέλεςαι einleitet, so scheint er fast sagen zu wollen, die
Erfüllung der Weissagung sei die eigene Absicht Jesu bei
jenem Ausruf gewesen: allein mit solchem typologischen
Spiel wird kein am Kreuz im Todeskampf Begriffener sich
abgeben, sondern nur sein in ruhiger Lage befindlicher
Biograph. Indeſs, auch hiedurch war immer nur die eine
Hälfte jenes messianischen Verses, die auf den Essig be-
zügliche, erfüllt: die von der Galle handelnde, welche als
Inbegriff aller Bitterkeit zu einer Beziehung auf den lei-
denden Messias ganz besonders geeignet schien, war noch
übrig. Zwar, daſs χολὴ als βρῶμα gegeben worden sei,
was die Psalmstelle strenggenommen verlangte, blieb als un-
denkbar bei Seite gestellt: wohl aber schien es dem ersten
Evangelisten, oder wem er hier folgt, thunlich, die Galle
als Ingredienz unter den Essig zu mischen, eine Mischung,
welche dann freilich Jesus, des übeln Geschmacks wegen,
nicht trinken konnte. Der zweite Evangelist, mehr auf
den pragmatischen als auf den prophetischen Zusammen-
hang bedacht, machte dann, mit Beziehung auf eine jüdi-
sche Sitte, aus dem Essig mit Galle bittern Myrrhenwein,
und lieſs Jesum diesen, ohne Zweifel aus Scheue vor Be-
räubung, ausschlagen. Da aber diesen beiden Evangelisten
neben der Erzählung von dem mit Galle gemischten Essig
auch noch die ursprüngliche, von bloſsem Essig, zugekom-
men war: so wollten sie diese durch jene nicht verdrän-
gen lassen, und stellten daher beide nebeneinander. Hie-
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[536/0555] Dritter Abschnitt. εἰς τὴν δίψαν μου des Orakels ausdrücklich erfüllt war, so hielt es der Verfasser des vierten Evangeliums für wahr- scheinlich, daſs Jesus auch wirklich die Empfindung des Durstes geäussert, d. h. διψῶ gerufen habe; ein Ruf, den er ausdrücklich als Erfüllung der γραφὴ, worunter ohne Zweifel die genannte Psalmstelle (vgl. Ps. 22, 16.) ver- standen ist, bezeichnet, und zwar, indem er das ἵνα τε- λειωϑῇ ἡ γραφὴ durch εἰδὼς ὁ Ἰησοῦς, ὅτι πάντα ἤδη τε- τέλεςαι einleitet, so scheint er fast sagen zu wollen, die Erfüllung der Weissagung sei die eigene Absicht Jesu bei jenem Ausruf gewesen: allein mit solchem typologischen Spiel wird kein am Kreuz im Todeskampf Begriffener sich abgeben, sondern nur sein in ruhiger Lage befindlicher Biograph. Indeſs, auch hiedurch war immer nur die eine Hälfte jenes messianischen Verses, die auf den Essig be- zügliche, erfüllt: die von der Galle handelnde, welche als Inbegriff aller Bitterkeit zu einer Beziehung auf den lei- denden Messias ganz besonders geeignet schien, war noch übrig. Zwar, daſs χολὴ als βρῶμα gegeben worden sei, was die Psalmstelle strenggenommen verlangte, blieb als un- denkbar bei Seite gestellt: wohl aber schien es dem ersten Evangelisten, oder wem er hier folgt, thunlich, die Galle als Ingredienz unter den Essig zu mischen, eine Mischung, welche dann freilich Jesus, des übeln Geschmacks wegen, nicht trinken konnte. Der zweite Evangelist, mehr auf den pragmatischen als auf den prophetischen Zusammen- hang bedacht, machte dann, mit Beziehung auf eine jüdi- sche Sitte, aus dem Essig mit Galle bittern Myrrhenwein, und lieſs Jesum diesen, ohne Zweifel aus Scheue vor Be- räubung, ausschlagen. Da aber diesen beiden Evangelisten neben der Erzählung von dem mit Galle gemischten Essig auch noch die ursprüngliche, von bloſsem Essig, zugekom- men war: so wollten sie diese durch jene nicht verdrän- gen lassen, und stellten daher beide nebeneinander. Hie- mit soll keineswegs geleugnet werden, daſs Jesu vor der

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/555>, abgerufen am 25.11.2024.