Die erste Frage des Pilatus an Jesum ist nach allen. Evangelien: su ei o basileus ton Ioudaion, d. h. der Mes- sias? Bei den zwei ersten Evangelisten ist diese Frage ohne Einleitung durch eine Klage der Juden (Matth. V. 11. Marc. V. 2.); bei Johannes fragt Pilatus, aus dem Präto- rium heraustretend, die Juden, was sie gegen Jesum zu klagen hätten (18, 19.)? worauf sie ihm mit einem kaum begreiflichen Troz erwiedert haben sollen: ei me outos en kakopoios, ouk an soi paredokamen auton, wodurch sie kei- neswegs sich versprechen konnten, dem Römer die Bestä- tigung auf die schnellste Weise abzudringen 4), sondern nur ihn zu erbittern. Nachdem ihnen Pilatus hierauf mit ebenso unglaublicher Gelindigkeit zur Antwort gegeben: so mögen sie ihn nehmen und nach ihrem Gesez richten -- indem er an ein todeswürdiges Verbrechen nicht gedacht zu haben scheint --, und die Juden ihm ihre Incompetenz zur Vollziehung von Todesstrafen entgegengehalten haben: geht der Procurator hinein, und legt Jesu gleich die be- stimmte Frage vor, ob er der König der Juden sei? wel- che somit hier gleichfalls nicht gehörig eingeleitet ist. Nur bei Lukas ist diess der Fall, welcher zuerst die Anklagen der Synedristen gegen Jesum aufführt, dass er das Volk aufwiegle, und zur Verweigerung der Steuer an den Cä- sar reize, indem er sich für khrison basilea ausgebe (23, 2.).
Begriffe man auf diese Weise aus der Relation des Lukas, wie Pilatus sofort die Frage an Jesum richten konnte, ob er der König der Juden sei? so ist bei ihm um so dunkler, wie auf die bejahende Antwort Jesu hin Pila- tus ohne Weiteres den Anklägern erklären konnte, an dem Beklagten keine Schuld zu finden. Er musste doch erst den Grund oder Ungrund der Anklage auf Volksaufwiege- lung untersuchen, und auch über den Sinn, in welchem sich Jesus für den basileus ton Ioudaion ausgab, sich mit
4) Wie Lücke annimmt, S. 631.
Das Leben Jesu II. Band. 33
Drittes Kapitel. §. 127.
Die erste Frage des Pilatus an Jesum ist nach allen. Evangelien: σὺ εἰ ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων, d. h. der Mes- sias? Bei den zwei ersten Evangelisten ist diese Frage ohne Einleitung durch eine Klage der Juden (Matth. V. 11. Marc. V. 2.); bei Johannes fragt Pilatus, aus dem Präto- rium heraustretend, die Juden, was sie gegen Jesum zu klagen hätten (18, 19.)? worauf sie ihm mit einem kaum begreiflichen Troz erwiedert haben sollen: εἰ μὴ οὖτος ἦν κακοποιὸς, ουκ ἄν σοι παρεδώκαμεν αὐτὸν, wodurch sie kei- neswegs sich versprechen konnten, dem Römer die Bestä- tigung auf die schnellste Weise abzudringen 4), sondern nur ihn zu erbittern. Nachdem ihnen Pilatus hierauf mit ebenso unglaublicher Gelindigkeit zur Antwort gegeben: so mögen sie ihn nehmen und nach ihrem Gesez richten — indem er an ein todeswürdiges Verbrechen nicht gedacht zu haben scheint —, und die Juden ihm ihre Incompetenz zur Vollziehung von Todesstrafen entgegengehalten haben: geht der Procurator hinein, und legt Jesu gleich die be- stimmte Frage vor, ob er der König der Juden sei? wel- che somit hier gleichfalls nicht gehörig eingeleitet ist. Nur bei Lukas ist dieſs der Fall, welcher zuerst die Anklagen der Synedristen gegen Jesum aufführt, daſs er das Volk aufwiegle, und zur Verweigerung der Steuer an den Cä- sar reize, indem er sich für χριςὸν βασιλέα ausgebe (23, 2.).
Begriffe man auf diese Weise aus der Relation des Lukas, wie Pilatus sofort die Frage an Jesum richten konnte, ob er der König der Juden sei? so ist bei ihm um so dunkler, wie auf die bejahende Antwort Jesu hin Pila- tus ohne Weiteres den Anklägern erklären konnte, an dem Beklagten keine Schuld zu finden. Er muſste doch erst den Grund oder Ungrund der Anklage auf Volksaufwiege- lung untersuchen, und auch über den Sinn, in welchem sich Jesus für den βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων ausgab, sich mit
4) Wie Lücke annimmt, S. 631.
Das Leben Jesu II. Band. 33
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Drittes Kapitel. §. 127.
Die erste Frage des Pilatus an Jesum ist nach allen.
Evangelien: σὺ εἰ ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων, d. h. der Mes-
sias? Bei den zwei ersten Evangelisten ist diese Frage ohne
Einleitung durch eine Klage der Juden (Matth. V. 11.
Marc. V. 2.); bei Johannes fragt Pilatus, aus dem Präto-
rium heraustretend, die Juden, was sie gegen Jesum zu
klagen hätten (18, 19.)? worauf sie ihm mit einem kaum
begreiflichen Troz erwiedert haben sollen: εἰ μὴ οὖτος ἦν
κακοποιὸς, ουκ ἄν σοι παρεδώκαμεν αὐτὸν, wodurch sie kei-
neswegs sich versprechen konnten, dem Römer die Bestä-
tigung auf die schnellste Weise abzudringen 4), sondern
nur ihn zu erbittern. Nachdem ihnen Pilatus hierauf mit
ebenso unglaublicher Gelindigkeit zur Antwort gegeben:
so mögen sie ihn nehmen und nach ihrem Gesez richten —
indem er an ein todeswürdiges Verbrechen nicht gedacht
zu haben scheint —, und die Juden ihm ihre Incompetenz
zur Vollziehung von Todesstrafen entgegengehalten haben:
geht der Procurator hinein, und legt Jesu gleich die be-
stimmte Frage vor, ob er der König der Juden sei? wel-
che somit hier gleichfalls nicht gehörig eingeleitet ist. Nur
bei Lukas ist dieſs der Fall, welcher zuerst die Anklagen
der Synedristen gegen Jesum aufführt, daſs er das Volk
aufwiegle, und zur Verweigerung der Steuer an den Cä-
sar reize, indem er sich für χριςὸν βασιλέα ausgebe (23, 2.).
Begriffe man auf diese Weise aus der Relation des
Lukas, wie Pilatus sofort die Frage an Jesum richten
konnte, ob er der König der Juden sei? so ist bei ihm um
so dunkler, wie auf die bejahende Antwort Jesu hin Pila-
tus ohne Weiteres den Anklägern erklären konnte, an dem
Beklagten keine Schuld zu finden. Er muſste doch erst
den Grund oder Ungrund der Anklage auf Volksaufwiege-
lung untersuchen, und auch über den Sinn, in welchem
sich Jesus für den βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων ausgab, sich mit
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/532>, abgerufen am 22.11.2024.
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