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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Drittes Kapitel. §. 122.
Vorurtheil geschärften Gesicht zwischen den Zeilen des
Textes gelesen; denn von einem solchen Antrag, den die
Hellenen beabsichtigt hätten, ist bei Johannes keine Spur:
da es doch, gesezt auch, der Evangelist habe von dem
Plan der Hellenen durch diese selber nichts gewusst, den
Reden Jesu anzumerken sein müsste, dass sich seine Ge-
müthsbewegung auf einen solchen Antrag bezog. Nach dem
Zusammenhang der johanneischen Darstellung hatte das Be-
gehren der Hellenen keinen andern Grund, als dass sie
durch den feierlichen Einzug und das viele Reden der Leute
von Jesu begierig geworden waren, den gefeierten Mann
zu sehen und kennen zu lernen, und die Gemüthsbewe-
gung, in welche Jesus bei diesem Anlass hineingerieth,
hieng mit ihrem Begehren nur so zusammen, dass Jesus
dadurch veranlasst wurde, an die baldige Verbreitung sei-
nes Reichs in der Heidenwelt, und an die unerlässliche
Bedingung von dieser, an seinen Tod, zu denken. Je ver-
mittelter und entfernter aber hienach die Vorstellung sei-
nes bevorstehenden Todes Jesu vor die Seele trat: desto
weniger ist zu begreifen, wie sie ihn so stark erschüttern
konnte, dass er sich gedrungen fühlte, den Vater um Ret-
tung aus dieser Stunde anzuflehen, und wenn er einmal
im Vorgefühl des Todes im Innersten erbebt haben soll, so
scheinen die Synoptiker dieses Zagen an eine richtigere
Stelle, in die unmittelbarste Nähe des beginnenden Lei-
dens, zu verlegen. Auch das fällt bei der johanneischen
Darstellung weg, was die Synoptiker zur Rechtfertigung
der Bangigkeit Jesu an die Hand geben, dass in der Ein-
samkeit des Gartens und der Nacht, deren Schauer ihn
überfielen, sich eine solche Gemüthsbewegung eher begrei-
fen, und ihre unverholene Äusserung im Kreise von lauter
Vertrauten und Würdigen sich wohl rechtfertigen zu las-
sen scheint. Denn nach Johannes befiel jene Erschütterung
Jesum am hellen Tage, mitten unter dem zuströmenden
Volke, wo man sonst leichter die Fassung behält, oder vor

Drittes Kapitel. §. 122.
Vorurtheil geschärften Gesicht zwischen den Zeilen des
Textes gelesen; denn von einem solchen Antrag, den die
Hellenen beabsichtigt hätten, ist bei Johannes keine Spur:
da es doch, gesezt auch, der Evangelist habe von dem
Plan der Hellenen durch diese selber nichts gewuſst, den
Reden Jesu anzumerken sein müſste, daſs sich seine Ge-
müthsbewegung auf einen solchen Antrag bezog. Nach dem
Zusammenhang der johanneischen Darstellung hatte das Be-
gehren der Hellenen keinen andern Grund, als daſs sie
durch den feierlichen Einzug und das viele Reden der Leute
von Jesu begierig geworden waren, den gefeierten Mann
zu sehen und kennen zu lernen, und die Gemüthsbewe-
gung, in welche Jesus bei diesem Anlaſs hineingerieth,
hieng mit ihrem Begehren nur so zusammen, daſs Jesus
dadurch veranlaſst wurde, an die baldige Verbreitung sei-
nes Reichs in der Heidenwelt, und an die unerläſsliche
Bedingung von dieser, an seinen Tod, zu denken. Je ver-
mittelter und entfernter aber hienach die Vorstellung sei-
nes bevorstehenden Todes Jesu vor die Seele trat: desto
weniger ist zu begreifen, wie sie ihn so stark erschüttern
konnte, daſs er sich gedrungen fühlte, den Vater um Ret-
tung aus dieser Stunde anzuflehen, und wenn er einmal
im Vorgefühl des Todes im Innersten erbebt haben soll, so
scheinen die Synoptiker dieses Zagen an eine richtigere
Stelle, in die unmittelbarste Nähe des beginnenden Lei-
dens, zu verlegen. Auch das fällt bei der johanneischen
Darstellung weg, was die Synoptiker zur Rechtfertigung
der Bangigkeit Jesu an die Hand geben, daſs in der Ein-
samkeit des Gartens und der Nacht, deren Schauer ihn
überfielen, sich eine solche Gemüthsbewegung eher begrei-
fen, und ihre unverholene Äusserung im Kreise von lauter
Vertrauten und Würdigen sich wohl rechtfertigen zu las-
sen scheint. Denn nach Johannes befiel jene Erschütterung
Jesum am hellen Tage, mitten unter dem zuströmenden
Volke, wo man sonst leichter die Fassung behält, oder vor

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[463/0482] Drittes Kapitel. §. 122. Vorurtheil geschärften Gesicht zwischen den Zeilen des Textes gelesen; denn von einem solchen Antrag, den die Hellenen beabsichtigt hätten, ist bei Johannes keine Spur: da es doch, gesezt auch, der Evangelist habe von dem Plan der Hellenen durch diese selber nichts gewuſst, den Reden Jesu anzumerken sein müſste, daſs sich seine Ge- müthsbewegung auf einen solchen Antrag bezog. Nach dem Zusammenhang der johanneischen Darstellung hatte das Be- gehren der Hellenen keinen andern Grund, als daſs sie durch den feierlichen Einzug und das viele Reden der Leute von Jesu begierig geworden waren, den gefeierten Mann zu sehen und kennen zu lernen, und die Gemüthsbewe- gung, in welche Jesus bei diesem Anlaſs hineingerieth, hieng mit ihrem Begehren nur so zusammen, daſs Jesus dadurch veranlaſst wurde, an die baldige Verbreitung sei- nes Reichs in der Heidenwelt, und an die unerläſsliche Bedingung von dieser, an seinen Tod, zu denken. Je ver- mittelter und entfernter aber hienach die Vorstellung sei- nes bevorstehenden Todes Jesu vor die Seele trat: desto weniger ist zu begreifen, wie sie ihn so stark erschüttern konnte, daſs er sich gedrungen fühlte, den Vater um Ret- tung aus dieser Stunde anzuflehen, und wenn er einmal im Vorgefühl des Todes im Innersten erbebt haben soll, so scheinen die Synoptiker dieses Zagen an eine richtigere Stelle, in die unmittelbarste Nähe des beginnenden Lei- dens, zu verlegen. Auch das fällt bei der johanneischen Darstellung weg, was die Synoptiker zur Rechtfertigung der Bangigkeit Jesu an die Hand geben, daſs in der Ein- samkeit des Gartens und der Nacht, deren Schauer ihn überfielen, sich eine solche Gemüthsbewegung eher begrei- fen, und ihre unverholene Äusserung im Kreise von lauter Vertrauten und Würdigen sich wohl rechtfertigen zu las- sen scheint. Denn nach Johannes befiel jene Erschütterung Jesum am hellen Tage, mitten unter dem zuströmenden Volke, wo man sonst leichter die Fassung behält, oder vor

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 463. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/482>, abgerufen am 26.11.2024.