Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Zweites Kapitel. §. 119. Berichten als dem ursprünglichen der Vorzug zu geben sei?Sieffert hat diese Frage mit grosser Entschiedenheit zu Gunsten des Johannes beantwortet, nicht bloss, wie er be- hauptet, vermöge des Vorurtheils für die angebliche Au- genzeugenschaft dieses Evangelisten, sondern auch, weil sich seine Erzählung in diesem Abschnitt durch innere Wahrheit und malerische Anschaulichkeit auf's Unverkenn- barste vor der des Matthäus auszeichne, welcher leztern die Spuren der Autopsie auch hier durchaus fehlen. Wäh- rend nämlich Johannes das Genaueste über die Art zu sa- gen wisse, wie Jesus den Verräther bezeichnet habe: klinge die Erzählung des ersten Evangeliums so, als ob seinem Verfasser nur die allgemeine Notiz, dass Jesus seinen Ver- räther auch persönlich bezeichnet habe, zugekommen ge- wesen wäre 5). Wenn in dieser Hinsicht allerdings von der runden Antwort, die Jesus bei Matthäus (V. 25.) dem Judas giebt, nicht geleugnet werden kann, dass sie ganz darnach aussieht, nach jener Notiz auf ziemlich trockene Weise gemacht zu sein, und in sofern der verblümteren, also doch immer wahrscheinlicheren Art, wie Johannes diese Bezeichnung wendet, nachsteht: so ist dagegen zwi- schen dem o embapsas oder embaptomenos met emou bei den zwei ersten Evangelisten, und dem johanneischen o ego bapsas to psomion epidoso, das Verhältniss ein ganz an- deres; hier nämlich ist offenbar die grössere Bestimmtheit der Bezeichnung, mithin die geringere Wahrscheinlichkeit des Berichts, auf Seiten des vierten Evangeliums. Bei Lukas bezeichnet Jesus den Verräther nur als einen der mit ihm bei Tische Sitzenden, und auch von dem o emba- psas k. t. l. bei Matthäus und Markus ist die Deutung, welche Kuinöl und Henneberg 6) von demselben geben: ei- 5) a. a. O. S. 147 ff. 6) Comm. über die Geschichte des Leidens und Todes Jesu,
z. d. St. Zweites Kapitel. §. 119. Berichten als dem ursprünglichen der Vorzug zu geben sei?Sieffert hat diese Frage mit groſser Entschiedenheit zu Gunsten des Johannes beantwortet, nicht bloſs, wie er be- hauptet, vermöge des Vorurtheils für die angebliche Au- genzeugenschaft dieses Evangelisten, sondern auch, weil sich seine Erzählung in diesem Abschnitt durch innere Wahrheit und malerische Anschaulichkeit auf's Unverkenn- barste vor der des Matthäus auszeichne, welcher leztern die Spuren der Autopsie auch hier durchaus fehlen. Wäh- rend nämlich Johannes das Genaueste über die Art zu sa- gen wisse, wie Jesus den Verräther bezeichnet habe: klinge die Erzählung des ersten Evangeliums so, als ob seinem Verfasser nur die allgemeine Notiz, daſs Jesus seinen Ver- räther auch persönlich bezeichnet habe, zugekommen ge- wesen wäre 5). Wenn in dieser Hinsicht allerdings von der runden Antwort, die Jesus bei Matthäus (V. 25.) dem Judas giebt, nicht geleugnet werden kann, daſs sie ganz darnach aussieht, nach jener Notiz auf ziemlich trockene Weise gemacht zu sein, und in sofern der verblümteren, also doch immer wahrscheinlicheren Art, wie Johannes diese Bezeichnung wendet, nachsteht: so ist dagegen zwi- schen dem ὁ ἐμβάψας oder ἐμβαπτόμενος μετ̕ ἐμοῦ bei den zwei ersten Evangelisten, und dem johanneischen ᾦ ἐγὼ βάψας τὸ ψωμίον ἐπιδώσω, das Verhältniſs ein ganz an- deres; hier nämlich ist offenbar die gröſsere Bestimmtheit der Bezeichnung, mithin die geringere Wahrscheinlichkeit des Berichts, auf Seiten des vierten Evangeliums. Bei Lukas bezeichnet Jesus den Verräther nur als einen der mit ihm bei Tische Sitzenden, und auch von dem ὁ ἐμβά- ψας κ. τ. λ. bei Matthäus und Markus ist die Deutung, welche Kuinöl und Henneberg 6) von demselben geben: ei- 5) a. a. O. S. 147 ff. 6) Comm. über die Geschichte des Leidens und Todes Jesu,
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Zweites Kapitel. §. 119.
Berichten als dem ursprünglichen der Vorzug zu geben sei?
Sieffert hat diese Frage mit groſser Entschiedenheit zu
Gunsten des Johannes beantwortet, nicht bloſs, wie er be-
hauptet, vermöge des Vorurtheils für die angebliche Au-
genzeugenschaft dieses Evangelisten, sondern auch, weil
sich seine Erzählung in diesem Abschnitt durch innere
Wahrheit und malerische Anschaulichkeit auf's Unverkenn-
barste vor der des Matthäus auszeichne, welcher leztern
die Spuren der Autopsie auch hier durchaus fehlen. Wäh-
rend nämlich Johannes das Genaueste über die Art zu sa-
gen wisse, wie Jesus den Verräther bezeichnet habe: klinge
die Erzählung des ersten Evangeliums so, als ob seinem
Verfasser nur die allgemeine Notiz, daſs Jesus seinen Ver-
räther auch persönlich bezeichnet habe, zugekommen ge-
wesen wäre 5). Wenn in dieser Hinsicht allerdings von
der runden Antwort, die Jesus bei Matthäus (V. 25.) dem
Judas giebt, nicht geleugnet werden kann, daſs sie ganz
darnach aussieht, nach jener Notiz auf ziemlich trockene
Weise gemacht zu sein, und in sofern der verblümteren,
also doch immer wahrscheinlicheren Art, wie Johannes
diese Bezeichnung wendet, nachsteht: so ist dagegen zwi-
schen dem ὁ ἐμβάψας oder ἐμβαπτόμενος μετ̕ ἐμοῦ bei den
zwei ersten Evangelisten, und dem johanneischen ᾦ ἐγὼ
βάψας τὸ ψωμίον ἐπιδώσω, das Verhältniſs ein ganz an-
deres; hier nämlich ist offenbar die gröſsere Bestimmtheit
der Bezeichnung, mithin die geringere Wahrscheinlichkeit
des Berichts, auf Seiten des vierten Evangeliums. Bei
Lukas bezeichnet Jesus den Verräther nur als einen der
mit ihm bei Tische Sitzenden, und auch von dem ὁ ἐμβά-
ψας κ. τ. λ. bei Matthäus und Markus ist die Deutung,
welche Kuinöl und Henneberg 6) von demselben geben: ei-
5) a. a. O. S. 147 ff.
6) Comm. über die Geschichte des Leidens und Todes Jesu,
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