Messias bezogen worden seien; dass aber Jesus selbststän- dig, vor dem Erfolg, auf eine solche Beziehung ganz hete- rogener Stellen gekommen sei, ebenso schwer denkbar ist: so wäre das vollends dem Wunder ähnlich, wenn einer so falschen Deutung der Erfolg doch wirklich entsprochen haben sollte; überdiess aber reichen die A. T.lichen Orakel und Vorbilder nicht einmal hin, um alle einzelnen Züge in der Vorherverkündigung Jesu, namentlich die genaue Zeitbe- stimmung, zu erklären.
Kann somit Jesus weder auf übernatürliche noch auf natürliche Weise eine so genaue Vorkenntniss der Art und Weise seines Leidens und Todes gehabt haben: so hat er sie überhaupt nicht gehabt, und was ihm die Evan- gelisten davon in den Mund legen, ist als vaticinium post eventum anzusehen 10). Hiebei hat man nicht ermangelt, den synoptischen Berichten gegenüber den johanncischen zu erheben, indem eben die speciellen Züge der Voraussa- gung, welche Jesus nicht so gegeben haben kann, nur bei den Synoptikern sich finden, während Johannes ihm nur unbestimmte Andeutungen in den Mund lege, und von die- sen seine nach dem Erfolg gemachte Auslegung derselben unterscheide, zum deutlichen Beweis, dass wir in seinem Evangelium allein die Reden Jesu unverfälscht in ihrer ur- sprünglichen Gestalt besitzen 11). Allein näher betrachtet verhält es sich nicht so, dass auf den Verfasser des vier- ten Evangeliums nur die Schuld irriger Deutung der übri- gens unverfälscht erhaltenen Aussprüche Jesu fiele, son- dern an Einer Stelle wenigstens hat er, zwar dunkel, aber doch unverkennbar, die Vorausbezeichnung seines Todes
10)Paulus, ex. Handb. 2, S. 415 ff.; Ammon, bibl. Theol. 2, 377 f.; Kaiser, bibl. Theol., 1, S. 246. Auch Fritzsche, a. a. O., räumt diess zum Theil ein.
11)Bertholdt, Einleitung in d. N. T. S. 1305 ff.; Wegscheider, Einleit. in das Evang. Johannis, S. 271 f.
Erstes Kapitel. §. 107.
Messias bezogen worden seien; daſs aber Jesus selbststän- dig, vor dem Erfolg, auf eine solche Beziehung ganz hete- rogener Stellen gekommen sei, ebenso schwer denkbar ist: so wäre das vollends dem Wunder ähnlich, wenn einer so falschen Deutung der Erfolg doch wirklich entsprochen haben sollte; überdieſs aber reichen die A. T.lichen Orakel und Vorbilder nicht einmal hin, um alle einzelnen Züge in der Vorherverkündigung Jesu, namentlich die genaue Zeitbe- stimmung, zu erklären.
Kann somit Jesus weder auf übernatürliche noch auf natürliche Weise eine so genaue Vorkenntniſs der Art und Weise seines Leidens und Todes gehabt haben: so hat er sie überhaupt nicht gehabt, und was ihm die Evan- gelisten davon in den Mund legen, ist als vaticinium post eventum anzusehen 10). Hiebei hat man nicht ermangelt, den synoptischen Berichten gegenüber den johanncischen zu erheben, indem eben die speciellen Züge der Voraussa- gung, welche Jesus nicht so gegeben haben kann, nur bei den Synoptikern sich finden, während Johannes ihm nur unbestimmte Andeutungen in den Mund lege, und von die- sen seine nach dem Erfolg gemachte Auslegung derselben unterscheide, zum deutlichen Beweis, daſs wir in seinem Evangelium allein die Reden Jesu unverfälscht in ihrer ur- sprünglichen Gestalt besitzen 11). Allein näher betrachtet verhält es sich nicht so, daſs auf den Verfasser des vier- ten Evangeliums nur die Schuld irriger Deutung der übri- gens unverfälscht erhaltenen Aussprüche Jesu fiele, son- dern an Einer Stelle wenigstens hat er, zwar dunkel, aber doch unverkennbar, die Vorausbezeichnung seines Todes
10)Paulus, ex. Handb. 2, S. 415 ff.; Ammon, bibl. Theol. 2, 377 f.; Kaiser, bibl. Theol., 1, S. 246. Auch Fritzsche, a. a. O., räumt diess zum Theil ein.
11)Bertholdt, Einleitung in d. N. T. S. 1305 ff.; Wegscheider, Einleit. in das Evang. Johannis, S. 271 f.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0328"n="309"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Erstes Kapitel</hi>. §. 107.</fw><lb/>
Messias bezogen worden seien; daſs aber Jesus selbststän-<lb/>
dig, vor dem Erfolg, auf eine solche Beziehung ganz hete-<lb/>
rogener Stellen gekommen sei, ebenso schwer denkbar ist:<lb/>
so wäre das vollends dem Wunder ähnlich, wenn einer so<lb/>
falschen Deutung der Erfolg doch wirklich entsprochen haben<lb/>
sollte; überdieſs aber reichen die A. T.lichen Orakel und<lb/>
Vorbilder nicht einmal hin, um alle einzelnen Züge in der<lb/>
Vorherverkündigung Jesu, namentlich die genaue Zeitbe-<lb/>
stimmung, zu erklären.</p><lb/><p>Kann somit Jesus weder auf übernatürliche noch<lb/>
auf natürliche Weise eine so genaue Vorkenntniſs der Art<lb/>
und Weise seines Leidens und Todes gehabt haben: so<lb/>
hat er sie überhaupt nicht gehabt, und was ihm die Evan-<lb/>
gelisten davon in den Mund legen, ist als <hirendition="#i">vaticinium post<lb/>
eventum</hi> anzusehen <noteplace="foot"n="10)"><hirendition="#k">Paulus</hi>, ex. Handb. 2, S. 415 ff.; <hirendition="#k">Ammon</hi>, bibl. Theol. 2, 377 f.;<lb/><hirendition="#k">Kaiser</hi>, bibl. Theol., 1, S. 246. Auch <hirendition="#k">Fritzsche</hi>, a. a. O.,<lb/>
räumt diess zum Theil ein.</note>. Hiebei hat man nicht ermangelt,<lb/>
den synoptischen Berichten gegenüber den johanncischen<lb/>
zu erheben, indem eben die speciellen Züge der Voraussa-<lb/>
gung, welche Jesus nicht so gegeben haben kann, nur bei<lb/>
den Synoptikern sich finden, während Johannes ihm nur<lb/>
unbestimmte Andeutungen in den Mund lege, und von die-<lb/>
sen seine nach dem Erfolg gemachte Auslegung derselben<lb/>
unterscheide, zum deutlichen Beweis, daſs wir in seinem<lb/>
Evangelium allein die Reden Jesu unverfälscht in ihrer ur-<lb/>
sprünglichen Gestalt besitzen <noteplace="foot"n="11)"><hirendition="#k">Bertholdt</hi>, Einleitung in d. N. T. S. 1305 ff.; <hirendition="#k">Wegscheider</hi>,<lb/>
Einleit. in das Evang. Johannis, S. 271 f.</note>. Allein näher betrachtet<lb/>
verhält es sich nicht so, daſs auf den Verfasser des vier-<lb/>
ten Evangeliums nur die Schuld irriger Deutung der übri-<lb/>
gens unverfälscht erhaltenen Aussprüche Jesu fiele, son-<lb/>
dern an Einer Stelle wenigstens hat er, zwar dunkel, aber<lb/>
doch unverkennbar, die Vorausbezeichnung seines Todes<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[309/0328]
Erstes Kapitel. §. 107.
Messias bezogen worden seien; daſs aber Jesus selbststän-
dig, vor dem Erfolg, auf eine solche Beziehung ganz hete-
rogener Stellen gekommen sei, ebenso schwer denkbar ist:
so wäre das vollends dem Wunder ähnlich, wenn einer so
falschen Deutung der Erfolg doch wirklich entsprochen haben
sollte; überdieſs aber reichen die A. T.lichen Orakel und
Vorbilder nicht einmal hin, um alle einzelnen Züge in der
Vorherverkündigung Jesu, namentlich die genaue Zeitbe-
stimmung, zu erklären.
Kann somit Jesus weder auf übernatürliche noch
auf natürliche Weise eine so genaue Vorkenntniſs der Art
und Weise seines Leidens und Todes gehabt haben: so
hat er sie überhaupt nicht gehabt, und was ihm die Evan-
gelisten davon in den Mund legen, ist als vaticinium post
eventum anzusehen 10). Hiebei hat man nicht ermangelt,
den synoptischen Berichten gegenüber den johanncischen
zu erheben, indem eben die speciellen Züge der Voraussa-
gung, welche Jesus nicht so gegeben haben kann, nur bei
den Synoptikern sich finden, während Johannes ihm nur
unbestimmte Andeutungen in den Mund lege, und von die-
sen seine nach dem Erfolg gemachte Auslegung derselben
unterscheide, zum deutlichen Beweis, daſs wir in seinem
Evangelium allein die Reden Jesu unverfälscht in ihrer ur-
sprünglichen Gestalt besitzen 11). Allein näher betrachtet
verhält es sich nicht so, daſs auf den Verfasser des vier-
ten Evangeliums nur die Schuld irriger Deutung der übri-
gens unverfälscht erhaltenen Aussprüche Jesu fiele, son-
dern an Einer Stelle wenigstens hat er, zwar dunkel, aber
doch unverkennbar, die Vorausbezeichnung seines Todes
10) Paulus, ex. Handb. 2, S. 415 ff.; Ammon, bibl. Theol. 2, 377 f.;
Kaiser, bibl. Theol., 1, S. 246. Auch Fritzsche, a. a. O.,
räumt diess zum Theil ein.
11) Bertholdt, Einleitung in d. N. T. S. 1305 ff.; Wegscheider,
Einleit. in das Evang. Johannis, S. 271 f.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/328>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.