Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Zehntes Kapitel. §. 102.
sein soll. Das Alles konnten die Jünger eigentlich nur im
Wachen wahrnehmen, und fällt somit die Voraussetzung
eines Traums als eine überflüssige hinweg.

Besser daher, sofern sie darin, dass ihrer Drei an
Einem Traume theilgenommen haben müssten, eine eigen-
thümliche Schwierigkeit hat, den Faden, welcher nach
dieser Erklärungsart den Vorgang noch an das Innere
knüpft, ganz abgerissen, und Alles wieder in die Aussen-
welt verlegt, so dass wir, wie zuerst einen übernatürli-
chen, so nun einen natürlichen äusseren Hergang vor uns
haben. Den Jüngern bot sich etwas Objektives dar: so
erklärt sich, wie es mehrere zugleich wahrnehmen konn-
ten; sie täuschten sich wachend über das Wahrgenomme-
ne: natürlich, weil sie alle in demselben Vorstellungskreis,
in derselben Stimmung und Lage sich befanden. Dieser
Ansicht zufolge ist das Wesentliche der Scene auf dem
Berge eine geheime Zusammenkunft, welche Jesus beab-
sichtigte, und zu diesem Behufe die drei zuverlässigsten
seiner Jünger mit sich nahm. Wer die zwei Männer wa-
ren, mit welchen Jesus zusammenkam, wagt Paulus nicht
zu bestimmen; Kuinöl vermuthet heimliche Anhänger in
der Art des Nikodemus; nach Venturini waren es Esse-
ner, Jesu geheime Verbündete. Ehe diese noch eintrafen,
betete Jesus, und die Jünger, nicht zur Theilnahme gezo-
gen, schliefen ein; denn den von Lukas an die Hand ge-
gebenen Schlaf, wiewohl traumlos, behält diese Erklärung
gerne bei, um bei eben erst Erwachten die Täuschung
wahrscheinlicher zu machen. An fremden Stimmen, die
sie bei Jesu hörten, wachen sie auf, sehen Jesum, der
wahrscheinlich auf einem höheren Punkte des Berges, als
wo sie sich gelagert hatten, stand, in einem ungewöhnli-
chen Glanz, der von den ersten Morgenstrahlen, welche,
vielleicht durch nahe Schneelagen zurückgeworfen, auf Je-
sum fielen, herrührte, von ihnen aber in der ersten Über-
raschung für übernatürliche Verklärung gehalten wurde;

Zehntes Kapitel. §. 102.
sein soll. Das Alles konnten die Jünger eigentlich nur im
Wachen wahrnehmen, und fällt somit die Voraussetzung
eines Traums als eine überflüssige hinweg.

Besser daher, sofern sie darin, daſs ihrer Drei an
Einem Traume theilgenommen haben müſsten, eine eigen-
thümliche Schwierigkeit hat, den Faden, welcher nach
dieser Erklärungsart den Vorgang noch an das Innere
knüpft, ganz abgerissen, und Alles wieder in die Aussen-
welt verlegt, so daſs wir, wie zuerst einen übernatürli-
chen, so nun einen natürlichen äusseren Hergang vor uns
haben. Den Jüngern bot sich etwas Objektives dar: so
erklärt sich, wie es mehrere zugleich wahrnehmen konn-
ten; sie täuschten sich wachend über das Wahrgenomme-
ne: natürlich, weil sie alle in demselben Vorstellungskreis,
in derselben Stimmung und Lage sich befanden. Dieser
Ansicht zufolge ist das Wesentliche der Scene auf dem
Berge eine geheime Zusammenkunft, welche Jesus beab-
sichtigte, und zu diesem Behufe die drei zuverlässigsten
seiner Jünger mit sich nahm. Wer die zwei Männer wa-
ren, mit welchen Jesus zusammenkam, wagt Paulus nicht
zu bestimmen; Kuinöl vermuthet heimliche Anhänger in
der Art des Nikodemus; nach Venturini waren es Esse-
ner, Jesu geheime Verbündete. Ehe diese noch eintrafen,
betete Jesus, und die Jünger, nicht zur Theilnahme gezo-
gen, schliefen ein; denn den von Lukas an die Hand ge-
gebenen Schlaf, wiewohl traumlos, behält diese Erklärung
gerne bei, um bei eben erst Erwachten die Täuschung
wahrscheinlicher zu machen. An fremden Stimmen, die
sie bei Jesu hörten, wachen sie auf, sehen Jesum, der
wahrscheinlich auf einem höheren Punkte des Berges, als
wo sie sich gelagert hatten, stand, in einem ungewöhnli-
chen Glanz, der von den ersten Morgenstrahlen, welche,
vielleicht durch nahe Schneelagen zurückgeworfen, auf Je-
sum fielen, herrührte, von ihnen aber in der ersten Über-
raschung für übernatürliche Verklärung gehalten wurde;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0280" n="261"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zehntes Kapitel</hi>. §. 102.</fw><lb/>
sein soll. Das Alles konnten die Jünger eigentlich nur im<lb/>
Wachen wahrnehmen, und fällt somit die Voraussetzung<lb/>
eines Traums als eine überflüssige hinweg.</p><lb/>
          <p>Besser daher, sofern sie darin, da&#x017F;s ihrer Drei an<lb/>
Einem Traume theilgenommen haben mü&#x017F;sten, eine eigen-<lb/>
thümliche Schwierigkeit hat, den Faden, welcher nach<lb/>
dieser Erklärungsart den Vorgang noch an das Innere<lb/>
knüpft, ganz abgerissen, und Alles wieder in die Aussen-<lb/>
welt verlegt, so da&#x017F;s wir, wie zuerst einen übernatürli-<lb/>
chen, so nun einen natürlichen äusseren Hergang vor uns<lb/>
haben. Den Jüngern bot sich etwas Objektives dar: so<lb/>
erklärt sich, wie es mehrere zugleich wahrnehmen konn-<lb/>
ten; sie täuschten sich wachend über das Wahrgenomme-<lb/>
ne: natürlich, weil sie alle in demselben Vorstellungskreis,<lb/>
in derselben Stimmung und Lage sich befanden. Dieser<lb/>
Ansicht zufolge ist das Wesentliche der Scene auf dem<lb/>
Berge eine geheime Zusammenkunft, welche Jesus beab-<lb/>
sichtigte, und zu diesem Behufe die drei zuverlässigsten<lb/>
seiner Jünger mit sich nahm. Wer die zwei Männer wa-<lb/>
ren, mit welchen Jesus zusammenkam, wagt <hi rendition="#k">Paulus</hi> nicht<lb/>
zu bestimmen; <hi rendition="#k">Kuinöl</hi> vermuthet heimliche Anhänger in<lb/>
der Art des Nikodemus; nach <hi rendition="#k">Venturini</hi> waren es Esse-<lb/>
ner, Jesu geheime Verbündete. Ehe diese noch eintrafen,<lb/>
betete Jesus, und die Jünger, nicht zur Theilnahme gezo-<lb/>
gen, schliefen ein; denn den von Lukas an die Hand ge-<lb/>
gebenen Schlaf, wiewohl traumlos, behält diese Erklärung<lb/>
gerne bei, um bei eben erst Erwachten die Täuschung<lb/>
wahrscheinlicher zu machen. An fremden Stimmen, die<lb/>
sie bei Jesu hörten, wachen sie auf, sehen Jesum, der<lb/>
wahrscheinlich auf einem höheren Punkte des Berges, als<lb/>
wo sie sich gelagert hatten, stand, in einem ungewöhnli-<lb/>
chen Glanz, der von den ersten Morgenstrahlen, welche,<lb/>
vielleicht durch nahe Schneelagen zurückgeworfen, auf Je-<lb/>
sum fielen, herrührte, von ihnen aber in der ersten Über-<lb/>
raschung für übernatürliche Verklärung gehalten wurde;<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[261/0280] Zehntes Kapitel. §. 102. sein soll. Das Alles konnten die Jünger eigentlich nur im Wachen wahrnehmen, und fällt somit die Voraussetzung eines Traums als eine überflüssige hinweg. Besser daher, sofern sie darin, daſs ihrer Drei an Einem Traume theilgenommen haben müſsten, eine eigen- thümliche Schwierigkeit hat, den Faden, welcher nach dieser Erklärungsart den Vorgang noch an das Innere knüpft, ganz abgerissen, und Alles wieder in die Aussen- welt verlegt, so daſs wir, wie zuerst einen übernatürli- chen, so nun einen natürlichen äusseren Hergang vor uns haben. Den Jüngern bot sich etwas Objektives dar: so erklärt sich, wie es mehrere zugleich wahrnehmen konn- ten; sie täuschten sich wachend über das Wahrgenomme- ne: natürlich, weil sie alle in demselben Vorstellungskreis, in derselben Stimmung und Lage sich befanden. Dieser Ansicht zufolge ist das Wesentliche der Scene auf dem Berge eine geheime Zusammenkunft, welche Jesus beab- sichtigte, und zu diesem Behufe die drei zuverlässigsten seiner Jünger mit sich nahm. Wer die zwei Männer wa- ren, mit welchen Jesus zusammenkam, wagt Paulus nicht zu bestimmen; Kuinöl vermuthet heimliche Anhänger in der Art des Nikodemus; nach Venturini waren es Esse- ner, Jesu geheime Verbündete. Ehe diese noch eintrafen, betete Jesus, und die Jünger, nicht zur Theilnahme gezo- gen, schliefen ein; denn den von Lukas an die Hand ge- gebenen Schlaf, wiewohl traumlos, behält diese Erklärung gerne bei, um bei eben erst Erwachten die Täuschung wahrscheinlicher zu machen. An fremden Stimmen, die sie bei Jesu hörten, wachen sie auf, sehen Jesum, der wahrscheinlich auf einem höheren Punkte des Berges, als wo sie sich gelagert hatten, stand, in einem ungewöhnli- chen Glanz, der von den ersten Morgenstrahlen, welche, vielleicht durch nahe Schneelagen zurückgeworfen, auf Je- sum fielen, herrührte, von ihnen aber in der ersten Über- raschung für übernatürliche Verklärung gehalten wurde;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/280
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/280>, abgerufen am 25.11.2024.