ihrer irrigen Ansicht von dem Vorgang heraus die Worte Jesu über den Feigenbaum in etwas verändert, und Jesus also wirklich dem Baum nur ein Prognostikon gestellt: so hat er doch, als das Vorausgesagte eingetreten war, den Erfolg seiner übernatürlichen Einwirkung zugeschrieben. Denn wenn er das, was er in Bezug auf den Feigenbaum geleistet, als ein poiein bezeichnet (V. 21. bei Matth.), so kann schon diess nur gezwungen auf eine blosse Voraus- sage bezogen werden; namentlich aber, wenn er es dem Bergeversetzen gegenüberstellt, so muss, wie dieses nach jeder möglichen Deutung doch immer ein Bewirken ist, ebenso auch jenes als eine Einwirkung auf den Baum ge- fasst werden; jedenfalls musste Jesus dem kateraso des Petrus (V. 21. Marc.) entweder widersprechen, oder war sein Stillschweigen darüber Zustimmung. Schreibt demnach Jesus das Verdorren des Baums hinterher seiner Einwir- kung zu, so hat er entweder auch schon durch seine An- rede an denselben eine Einwirkung beabsichtigt, oder er hat den zufälligen Erfolg zur Täuschung seiner Jünger ehr- geizig missbraucht, ein Dilemma, in welchem uns die Worte Jesu, wie sie von den Evangelisten referirt sind, entschie- den auf die erstere Seite hinweisen.
Unerbittlich also werden wir von diesem natürlichen Erklärungsversuch auf die supranaturalistische Auffassung zurückgedrängt, so schwierig diese auch gerade bei vorlie- gender Geschichte ist. Was sich gegen die physische Mög- lichkeit einer solchen Einwirkung sagen liesse, übergehen wir, nicht zwar, als ob wir mit Hase uns anheischig ma- chen könnten, sie aus der natürlichen Magie zu begrei- fen 2), sondern weil eine andere Schwierigkeit die Unter- suchung schon vorher abschliesst, und gar nicht bis zur Erwägung der physischen Möglichkeit kommen lässt. Die- ser entscheidende Anstoss betrifft die moralische Möglich-
2) L. J. §. 128.
Zweiter Abschnitt.
ihrer irrigen Ansicht von dem Vorgang heraus die Worte Jesu über den Feigenbaum in etwas verändert, und Jesus also wirklich dem Baum nur ein Prognostikon gestellt: so hat er doch, als das Vorausgesagte eingetreten war, den Erfolg seiner übernatürlichen Einwirkung zugeschrieben. Denn wenn er das, was er in Bezug auf den Feigenbaum geleistet, als ein ποιεῖν bezeichnet (V. 21. bei Matth.), so kann schon dieſs nur gezwungen auf eine bloſse Voraus- sage bezogen werden; namentlich aber, wenn er es dem Bergeversetzen gegenüberstellt, so muſs, wie dieses nach jeder möglichen Deutung doch immer ein Bewirken ist, ebenso auch jenes als eine Einwirkung auf den Baum ge- faſst werden; jedenfalls muſste Jesus dem κατηράσω des Petrus (V. 21. Marc.) entweder widersprechen, oder war sein Stillschweigen darüber Zustimmung. Schreibt demnach Jesus das Verdorren des Baums hinterher seiner Einwir- kung zu, so hat er entweder auch schon durch seine An- rede an denselben eine Einwirkung beabsichtigt, oder er hat den zufälligen Erfolg zur Täuschung seiner Jünger ehr- geizig miſsbraucht, ein Dilemma, in welchem uns die Worte Jesu, wie sie von den Evangelisten referirt sind, entschie- den auf die erstere Seite hinweisen.
Unerbittlich also werden wir von diesem natürlichen Erklärungsversuch auf die supranaturalistische Auffassung zurückgedrängt, so schwierig diese auch gerade bei vorlie- gender Geschichte ist. Was sich gegen die physische Mög- lichkeit einer solchen Einwirkung sagen lieſse, übergehen wir, nicht zwar, als ob wir mit Hase uns anheischig ma- chen könnten, sie aus der natürlichen Magie zu begrei- fen 2), sondern weil eine andere Schwierigkeit die Unter- suchung schon vorher abschlieſst, und gar nicht bis zur Erwägung der physischen Möglichkeit kommen läſst. Die- ser entscheidende Anstoſs betrifft die moralische Möglich-
2) L. J. §. 128.
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Zweiter Abschnitt.
ihrer irrigen Ansicht von dem Vorgang heraus die Worte
Jesu über den Feigenbaum in etwas verändert, und Jesus
also wirklich dem Baum nur ein Prognostikon gestellt: so
hat er doch, als das Vorausgesagte eingetreten war, den
Erfolg seiner übernatürlichen Einwirkung zugeschrieben.
Denn wenn er das, was er in Bezug auf den Feigenbaum
geleistet, als ein ποιεῖν bezeichnet (V. 21. bei Matth.), so
kann schon dieſs nur gezwungen auf eine bloſse Voraus-
sage bezogen werden; namentlich aber, wenn er es dem
Bergeversetzen gegenüberstellt, so muſs, wie dieses nach
jeder möglichen Deutung doch immer ein Bewirken ist,
ebenso auch jenes als eine Einwirkung auf den Baum ge-
faſst werden; jedenfalls muſste Jesus dem κατηράσω des
Petrus (V. 21. Marc.) entweder widersprechen, oder war
sein Stillschweigen darüber Zustimmung. Schreibt demnach
Jesus das Verdorren des Baums hinterher seiner Einwir-
kung zu, so hat er entweder auch schon durch seine An-
rede an denselben eine Einwirkung beabsichtigt, oder er
hat den zufälligen Erfolg zur Täuschung seiner Jünger ehr-
geizig miſsbraucht, ein Dilemma, in welchem uns die Worte
Jesu, wie sie von den Evangelisten referirt sind, entschie-
den auf die erstere Seite hinweisen.
Unerbittlich also werden wir von diesem natürlichen
Erklärungsversuch auf die supranaturalistische Auffassung
zurückgedrängt, so schwierig diese auch gerade bei vorlie-
gender Geschichte ist. Was sich gegen die physische Mög-
lichkeit einer solchen Einwirkung sagen lieſse, übergehen
wir, nicht zwar, als ob wir mit Hase uns anheischig ma-
chen könnten, sie aus der natürlichen Magie zu begrei-
fen 2), sondern weil eine andere Schwierigkeit die Unter-
suchung schon vorher abschlieſst, und gar nicht bis zur
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/257>, abgerufen am 22.11.2024.
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