Worten: ti emoi kai soi gunai; k. t. l.? aber hiemit lässt sich eine so entgegengesezte Eröffnung gar nicht in Ver- bindung denken, man müsste sich denn die abweisenden Worte laut, die zusagenden aber leise, bloss für Maria, gesprochen vorstellen, was eine Komödie veranstalten hiesse. Begreift man somit auf keine Weise, wie Maria ein Wunder, und gerade ein solches, erwarten konnte, so liesse sich der ersteren Schwierigkeit zwar durch die Annah- me scheinbar ausweichen, dass Maria nicht in Erwartung eines Wunders, sondern nur so, wie sie sich in allen schwierigen Fällen bei ihrem Sohne Raths erholte, sich auch in diesem an ihn gewendet habe 17): aber seine Erwiederung zeigt, dass er in den Worten seiner Mutter die Aufforderung zu einem Wunder gefunden hatte, und die Anweisung, welche Maria den Dienern giebt, bleibt ohnehin bei dieser Annahme unerklärt.
Die Erwiederung Jesu auf die Anmahnung seiner Mut- ter (V. 4.) ist ebenso oft auf übertriebene Weise getadelt 18) als auf ungenügende gerechtfertigt worden. Man mag im- merhin sagen, das hebräische mahl'iy valak@, dem das ti emoi kai soi entspreche, komme z. B. 2. Sam. 16, 10. auch als gelinder Tadel vor 19), oder sich darauf berufen, dass mit dem Amtsantritt Jesu sein Verhältniss zur Mutter, was die Wirksamkeit betrifft, sich gelöst habe 20): gewiss durfte doch Jesus auf die Gelegenheiten, seine Wundermacht in Anwendung zu bringen, mit Bescheidenheit aufmerksam gemacht werden, und so wenig derjenige, welcher ihm ei- nen Krankheitsfall mit hinzugefügter Bitte um Hülfe an- zeigte, eine Schmähung verdiente, so wenig und noch we- niger Maria, wenn sie einen eingetretenen Mangel mit bloss
17)Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 135. Vgl. auch Calvin, z. d. St.
18) z. B. von Woolston a. a. O.
19)Flatt, a. a. O. S. 90; Tholuck, z. d. St.
20)Olshausen, z. d. St.
Neuntes Kapitel. §. 99.
Worten: τί ἐμοὶ καὶ σοὶ γύναι; κ. τ. λ.? aber hiemit läſst sich eine so entgegengesezte Eröffnung gar nicht in Ver- bindung denken, man müſste sich denn die abweisenden Worte laut, die zusagenden aber leise, bloſs für Maria, gesprochen vorstellen, was eine Komödie veranstalten hieſse. Begreift man somit auf keine Weise, wie Maria ein Wunder, und gerade ein solches, erwarten konnte, so lieſse sich der ersteren Schwierigkeit zwar durch die Annah- me scheinbar ausweichen, daſs Maria nicht in Erwartung eines Wunders, sondern nur so, wie sie sich in allen schwierigen Fällen bei ihrem Sohne Raths erholte, sich auch in diesem an ihn gewendet habe 17): aber seine Erwiederung zeigt, daſs er in den Worten seiner Mutter die Aufforderung zu einem Wunder gefunden hatte, und die Anweisung, welche Maria den Dienern giebt, bleibt ohnehin bei dieser Annahme unerklärt.
Die Erwiederung Jesu auf die Anmahnung seiner Mut- ter (V. 4.) ist ebenso oft auf übertriebene Weise getadelt 18) als auf ungenügende gerechtfertigt worden. Man mag im- merhin sagen, das hebräische מַה־לִּי וָלָךְ, dem das τί ἐμοὶ καὶ σοὶ entspreche, komme z. B. 2. Sam. 16, 10. auch als gelinder Tadel vor 19), oder sich darauf berufen, daſs mit dem Amtsantritt Jesu sein Verhältniſs zur Mutter, was die Wirksamkeit betrifft, sich gelöst habe 20): gewiſs durfte doch Jesus auf die Gelegenheiten, seine Wundermacht in Anwendung zu bringen, mit Bescheidenheit aufmerksam gemacht werden, und so wenig derjenige, welcher ihm ei- nen Krankheitsfall mit hinzugefügter Bitte um Hülfe an- zeigte, eine Schmähung verdiente, so wenig und noch we- niger Maria, wenn sie einen eingetretenen Mangel mit bloſs
17)Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 135. Vgl. auch Calvin, z. d. St.
18) z. B. von Woolston a. a. O.
19)Flatt, a. a. O. S. 90; Tholuck, z. d. St.
20)Olshausen, z. d. St.
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Neuntes Kapitel. §. 99.
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sich eine so entgegengesezte Eröffnung gar nicht in Ver-
bindung denken, man müſste sich denn die abweisenden
Worte laut, die zusagenden aber leise, bloſs für Maria,
gesprochen vorstellen, was eine Komödie veranstalten
hieſse. Begreift man somit auf keine Weise, wie Maria ein
Wunder, und gerade ein solches, erwarten konnte, so
lieſse sich der ersteren Schwierigkeit zwar durch die Annah-
me scheinbar ausweichen, daſs Maria nicht in Erwartung
eines Wunders, sondern nur so, wie sie sich in allen
schwierigen Fällen bei ihrem Sohne Raths erholte, sich
auch in diesem an ihn gewendet habe 17): aber seine
Erwiederung zeigt, daſs er in den Worten seiner Mutter
die Aufforderung zu einem Wunder gefunden hatte, und
die Anweisung, welche Maria den Dienern giebt, bleibt
ohnehin bei dieser Annahme unerklärt.
Die Erwiederung Jesu auf die Anmahnung seiner Mut-
ter (V. 4.) ist ebenso oft auf übertriebene Weise getadelt 18)
als auf ungenügende gerechtfertigt worden. Man mag im-
merhin sagen, das hebräische מַה־לִּי וָלָךְ, dem das τί ἐμοὶ
καὶ σοὶ entspreche, komme z. B. 2. Sam. 16, 10. auch als
gelinder Tadel vor 19), oder sich darauf berufen, daſs mit
dem Amtsantritt Jesu sein Verhältniſs zur Mutter, was die
Wirksamkeit betrifft, sich gelöst habe 20): gewiſs durfte
doch Jesus auf die Gelegenheiten, seine Wundermacht in
Anwendung zu bringen, mit Bescheidenheit aufmerksam
gemacht werden, und so wenig derjenige, welcher ihm ei-
nen Krankheitsfall mit hinzugefügter Bitte um Hülfe an-
zeigte, eine Schmähung verdiente, so wenig und noch we-
niger Maria, wenn sie einen eingetretenen Mangel mit bloſs
17) Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 135. Vgl. auch Calvin, z. d. St.
18) z. B. von Woolston a. a. O.
19) Flatt, a. a. O. S. 90; Tholuck, z. d. St.
20) Olshausen, z. d. St.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/248>, abgerufen am 22.11.2024.
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