ob es wahrscheinlicher sei, dass der Verfasser sich unge- nau (vielmehr widersinnig) ausgedrückt, oder dass er eine Abweichung vom Naturlauf habe erzählen wollen; denn nur von dem, was er geben will, ist zunächst die Rede: was wirklich zum Grund gelegen, das ist, selbst nach dem immerwährenden Paulus'schen Reden von Unterscheidung des Urtheils vom Faktum, eine ganz andre Frage. Dar- aus, dass unserer Ansicht zufolge eine Abweichung vom Naturlauf nicht vorgekommen sein kann, folgt keineswegs, dass ein Erzähler aus der christlichen Urzeit eine solche nicht annehmen und berichten konnte 13): um also das Wunderbare aus dem Wege zu räumen, dürfen wir es nicht aus dem Bericht hinaus erklären, sondern das müssen wir versuchen, ob nicht der ganze Bericht aus dem Kreise des Geschichtlichen auszuschliessen ist. Und in dieser Hin- sicht hat nun zuvörderst jede unsrer drei Relationen ei- genthümliche Züge, die in historischer Hinsicht verdächtig sind.
Am auffallendsten sticht ein solcher Zug bei Markus hervor, wenn er V. 48. von Jesu sagt, er sei auf dem Meer gegen die Jünger dahergekommen, kai ethele parelthein autous, nur ihr angstvolles Rufen habe ihn vermocht, von ihnen Notiz zu nehmen. Mit Recht deutet Fritzsche diese Stelle so, dass Markus dadurch anzeigen wolle, Jesus habe im Sinne gehabt, durch göttliche Kraft unterstüzt, über den ganzen See, wie über festen Boden, hinüberzugehen. Aber mit eben so vielem Rechte fragt Paulus: hätte etwas zweck- loser, abenteuerlicher sein können, als ein so seltsames Wunder zu thun, ohne dass es gesehen werden sollte? Nur dass man desswegen nicht mit diesem Ausleger den Worten des Markus den natürlichen Sinn geben darf, als hätte Jesus die in der Nähe des Ufers Schiffenden zu Lande vorübergehen wollen, zumal die wunderhafte Deutung der
13) s. die treffliche Stelle bei Fritzsche, Comm. in Matth. p. 505.
Zweiter Abschnitt.
ob es wahrscheinlicher sei, daſs der Verfasser sich unge- nau (vielmehr widersinnig) ausgedrückt, oder daſs er eine Abweichung vom Naturlauf habe erzählen wollen; denn nur von dem, was er geben will, ist zunächst die Rede: was wirklich zum Grund gelegen, das ist, selbst nach dem immerwährenden Paulus'schen Reden von Unterscheidung des Urtheils vom Faktum, eine ganz andre Frage. Dar- aus, daſs unserer Ansicht zufolge eine Abweichung vom Naturlauf nicht vorgekommen sein kann, folgt keineswegs, daſs ein Erzähler aus der christlichen Urzeit eine solche nicht annehmen und berichten konnte 13): um also das Wunderbare aus dem Wege zu räumen, dürfen wir es nicht aus dem Bericht hinaus erklären, sondern das müssen wir versuchen, ob nicht der ganze Bericht aus dem Kreise des Geschichtlichen auszuschlieſsen ist. Und in dieser Hin- sicht hat nun zuvörderst jede unsrer drei Relationen ei- genthümliche Züge, die in historischer Hinsicht verdächtig sind.
Am auffallendsten sticht ein solcher Zug bei Markus hervor, wenn er V. 48. von Jesu sagt, er sei auf dem Meer gegen die Jünger dahergekommen, καὶ ἤϑελε παρελϑεῖν αὐτοὺς, nur ihr angstvolles Rufen habe ihn vermocht, von ihnen Notiz zu nehmen. Mit Recht deutet Fritzsche diese Stelle so, daſs Markus dadurch anzeigen wolle, Jesus habe im Sinne gehabt, durch göttliche Kraft unterstüzt, über den ganzen See, wie über festen Boden, hinüberzugehen. Aber mit eben so vielem Rechte fragt Paulus: hätte etwas zweck- loser, abenteuerlicher sein können, als ein so seltsames Wunder zu thun, ohne daſs es gesehen werden sollte? Nur daſs man deſswegen nicht mit diesem Ausleger den Worten des Markus den natürlichen Sinn geben darf, als hätte Jesus die in der Nähe des Ufers Schiffenden zu Lande vorübergehen wollen, zumal die wunderhafte Deutung der
13) s. die treffliche Stelle bei Fritzsche, Comm. in Matth. p. 505.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0203"n="184"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
ob es wahrscheinlicher sei, daſs der Verfasser sich unge-<lb/>
nau (vielmehr widersinnig) ausgedrückt, oder daſs er eine<lb/>
Abweichung vom Naturlauf habe erzählen wollen; denn<lb/>
nur von dem, was er geben will, ist zunächst die Rede:<lb/>
was wirklich zum Grund gelegen, das ist, selbst nach dem<lb/>
immerwährenden <hirendition="#k">Paulus</hi>'schen Reden von Unterscheidung<lb/>
des Urtheils vom Faktum, eine ganz andre Frage. Dar-<lb/>
aus, daſs unserer Ansicht zufolge eine Abweichung vom<lb/>
Naturlauf nicht vorgekommen sein kann, folgt keineswegs,<lb/>
daſs ein Erzähler aus der christlichen Urzeit eine solche<lb/>
nicht annehmen und berichten konnte <noteplace="foot"n="13)">s. die treffliche Stelle bei <hirendition="#k">Fritzsche</hi>, Comm. in Matth. p. 505.</note>: um also das<lb/>
Wunderbare aus dem Wege zu räumen, dürfen wir es<lb/>
nicht aus dem Bericht hinaus erklären, sondern das müssen<lb/>
wir versuchen, ob nicht der ganze Bericht aus dem Kreise<lb/>
des Geschichtlichen auszuschlieſsen ist. Und in dieser Hin-<lb/>
sicht hat nun zuvörderst jede unsrer drei Relationen ei-<lb/>
genthümliche Züge, die in historischer Hinsicht verdächtig<lb/>
sind.</p><lb/><p>Am auffallendsten sticht ein solcher Zug bei Markus<lb/>
hervor, wenn er V. 48. von Jesu sagt, er sei auf dem<lb/>
Meer gegen die Jünger dahergekommen, καὶἤϑελεπαρελϑεῖν<lb/>αὐτοὺς, nur ihr angstvolles Rufen habe ihn vermocht, von ihnen<lb/>
Notiz zu nehmen. Mit Recht deutet <hirendition="#k">Fritzsche</hi> diese Stelle<lb/>
so, daſs Markus dadurch anzeigen wolle, Jesus habe im<lb/>
Sinne gehabt, durch göttliche Kraft unterstüzt, über den<lb/>
ganzen See, wie über festen Boden, hinüberzugehen. Aber<lb/>
mit eben so vielem Rechte fragt <hirendition="#k">Paulus</hi>: hätte etwas zweck-<lb/>
loser, abenteuerlicher sein können, als ein so seltsames<lb/>
Wunder zu thun, ohne daſs es gesehen werden sollte?<lb/>
Nur daſs man deſswegen nicht mit diesem Ausleger den<lb/>
Worten des Markus den natürlichen Sinn geben darf, als<lb/>
hätte Jesus die in der Nähe des Ufers Schiffenden zu Lande<lb/>
vorübergehen wollen, zumal die wunderhafte Deutung der<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[184/0203]
Zweiter Abschnitt.
ob es wahrscheinlicher sei, daſs der Verfasser sich unge-
nau (vielmehr widersinnig) ausgedrückt, oder daſs er eine
Abweichung vom Naturlauf habe erzählen wollen; denn
nur von dem, was er geben will, ist zunächst die Rede:
was wirklich zum Grund gelegen, das ist, selbst nach dem
immerwährenden Paulus'schen Reden von Unterscheidung
des Urtheils vom Faktum, eine ganz andre Frage. Dar-
aus, daſs unserer Ansicht zufolge eine Abweichung vom
Naturlauf nicht vorgekommen sein kann, folgt keineswegs,
daſs ein Erzähler aus der christlichen Urzeit eine solche
nicht annehmen und berichten konnte 13): um also das
Wunderbare aus dem Wege zu räumen, dürfen wir es
nicht aus dem Bericht hinaus erklären, sondern das müssen
wir versuchen, ob nicht der ganze Bericht aus dem Kreise
des Geschichtlichen auszuschlieſsen ist. Und in dieser Hin-
sicht hat nun zuvörderst jede unsrer drei Relationen ei-
genthümliche Züge, die in historischer Hinsicht verdächtig
sind.
Am auffallendsten sticht ein solcher Zug bei Markus
hervor, wenn er V. 48. von Jesu sagt, er sei auf dem
Meer gegen die Jünger dahergekommen, καὶ ἤϑελε παρελϑεῖν
αὐτοὺς, nur ihr angstvolles Rufen habe ihn vermocht, von ihnen
Notiz zu nehmen. Mit Recht deutet Fritzsche diese Stelle
so, daſs Markus dadurch anzeigen wolle, Jesus habe im
Sinne gehabt, durch göttliche Kraft unterstüzt, über den
ganzen See, wie über festen Boden, hinüberzugehen. Aber
mit eben so vielem Rechte fragt Paulus: hätte etwas zweck-
loser, abenteuerlicher sein können, als ein so seltsames
Wunder zu thun, ohne daſs es gesehen werden sollte?
Nur daſs man deſswegen nicht mit diesem Ausleger den
Worten des Markus den natürlichen Sinn geben darf, als
hätte Jesus die in der Nähe des Ufers Schiffenden zu Lande
vorübergehen wollen, zumal die wunderhafte Deutung der
13) s. die treffliche Stelle bei Fritzsche, Comm. in Matth. p. 505.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/203>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.