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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 97.
bruch des Sturmes einschlief, und auch als er ausbrach,
nicht sogleich erwachte, das war nicht seine That, son-
dern Zufall; eben dieser Zufall aber ist es, welcher der
ganzen Scene erst ihre volle Bedeutung giebt; denn der
im Sturm schlafende Jesus ist durch den Contrast, wel-
cher darin liegt, ein nicht minder sinnvolles Bild, als der
nach so vielen Stürmen im Schlaf an der heimischen Insel
landende Odysseus. Dass nun Jesus wirklich bei'm Aus-
bruch eines Sturms geschlafen, kann zwar von Ungefähr
in Einem Falle unter zehn geschehen sein: auch in den
neun Fällen aber, wo es nicht geschehen war, sondern Je-
sus nur überhaupt im Sturme gefasst und muthig sich zeig-
te, würde, glaube ich, die Sage ihren Vortheil so weit ver-
standen haben, dass sie den Contrast der Seelenruhe Jesu
mit dem Toben der Elemente, wie er sich für den Ge-
danken in den Worten Jesu ausdrückte, so für die An-
schauung in das Bild des im Schiffe (oder wie Markus
malt 5), auf einem Kissen im Hintertheil des Schiffs) schla-
fenden Jesus zusammenfasste. Wenn so, was in Einem
Falle vielleicht sich wirklich ereignet hat, in neun Fällen
von der Sage producirt werden musste: so ist doch wohl
wahrscheinlicher, dass wir hier einen dieser neun, als
dass wir jenen Einen Fall vor uns haben. Bliebe auf die-
se Weise als historische Grundlage nichts mehr übrig, als
dass Jesus im Gegensaz zu tobenden Meereswellen den
Glaubensmuth seiner Jünger in Anspruch genommen, so
muss er diess nicht gerade mitten in einem Seesturm oder
überhaupt zur See gethan haben, sondern, so gut er bild-
lich sagen konnte: wenn ihr Glauben habt nur eines Senf-
korns gross, so seid ihr im Stande, zu diesem Berg zu
sprechen: hebe dich weg und wirf dich in's Meer (Matth.
21, 21.), oder zu diesem Baume: entwurzle dich und pflan-
ze dich in den Meeresgrund (Luc. 17, 6.), und beides mit

5) vgl. Saunier, über die Quellen des Markus, S. 82.
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Neuntes Kapitel. §. 97.
bruch des Sturmes einschlief, und auch als er ausbrach,
nicht sogleich erwachte, das war nicht seine That, son-
dern Zufall; eben dieser Zufall aber ist es, welcher der
ganzen Scene erst ihre volle Bedeutung giebt; denn der
im Sturm schlafende Jesus ist durch den Contrast, wel-
cher darin liegt, ein nicht minder sinnvolles Bild, als der
nach so vielen Stürmen im Schlaf an der heimischen Insel
landende Odysseus. Daſs nun Jesus wirklich bei'm Aus-
bruch eines Sturms geschlafen, kann zwar von Ungefähr
in Einem Falle unter zehn geschehen sein: auch in den
neun Fällen aber, wo es nicht geschehen war, sondern Je-
sus nur überhaupt im Sturme gefaſst und muthig sich zeig-
te, würde, glaube ich, die Sage ihren Vortheil so weit ver-
standen haben, daſs sie den Contrast der Seelenruhe Jesu
mit dem Toben der Elemente, wie er sich für den Ge-
danken in den Worten Jesu ausdrückte, so für die An-
schauung in das Bild des im Schiffe (oder wie Markus
malt 5), auf einem Kissen im Hintertheil des Schiffs) schla-
fenden Jesus zusammenfaſste. Wenn so, was in Einem
Falle vielleicht sich wirklich ereignet hat, in neun Fällen
von der Sage producirt werden muſste: so ist doch wohl
wahrscheinlicher, daſs wir hier einen dieser neun, als
daſs wir jenen Einen Fall vor uns haben. Bliebe auf die-
se Weise als historische Grundlage nichts mehr übrig, als
daſs Jesus im Gegensaz zu tobenden Meereswellen den
Glaubensmuth seiner Jünger in Anspruch genommen, so
muſs er dieſs nicht gerade mitten in einem Seesturm oder
überhaupt zur See gethan haben, sondern, so gut er bild-
lich sagen konnte: wenn ihr Glauben habt nur eines Senf-
korns groſs, so seid ihr im Stande, zu diesem Berg zu
sprechen: hebe dich weg und wirf dich in's Meer (Matth.
21, 21.), oder zu diesem Baume: entwurzle dich und pflan-
ze dich in den Meeresgrund (Luc. 17, 6.), und beides mit

5) vgl. Saunier, über die Quellen des Markus, S. 82.
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[179/0198] Neuntes Kapitel. §. 97. bruch des Sturmes einschlief, und auch als er ausbrach, nicht sogleich erwachte, das war nicht seine That, son- dern Zufall; eben dieser Zufall aber ist es, welcher der ganzen Scene erst ihre volle Bedeutung giebt; denn der im Sturm schlafende Jesus ist durch den Contrast, wel- cher darin liegt, ein nicht minder sinnvolles Bild, als der nach so vielen Stürmen im Schlaf an der heimischen Insel landende Odysseus. Daſs nun Jesus wirklich bei'm Aus- bruch eines Sturms geschlafen, kann zwar von Ungefähr in Einem Falle unter zehn geschehen sein: auch in den neun Fällen aber, wo es nicht geschehen war, sondern Je- sus nur überhaupt im Sturme gefaſst und muthig sich zeig- te, würde, glaube ich, die Sage ihren Vortheil so weit ver- standen haben, daſs sie den Contrast der Seelenruhe Jesu mit dem Toben der Elemente, wie er sich für den Ge- danken in den Worten Jesu ausdrückte, so für die An- schauung in das Bild des im Schiffe (oder wie Markus malt 5), auf einem Kissen im Hintertheil des Schiffs) schla- fenden Jesus zusammenfaſste. Wenn so, was in Einem Falle vielleicht sich wirklich ereignet hat, in neun Fällen von der Sage producirt werden muſste: so ist doch wohl wahrscheinlicher, daſs wir hier einen dieser neun, als daſs wir jenen Einen Fall vor uns haben. Bliebe auf die- se Weise als historische Grundlage nichts mehr übrig, als daſs Jesus im Gegensaz zu tobenden Meereswellen den Glaubensmuth seiner Jünger in Anspruch genommen, so muſs er dieſs nicht gerade mitten in einem Seesturm oder überhaupt zur See gethan haben, sondern, so gut er bild- lich sagen konnte: wenn ihr Glauben habt nur eines Senf- korns groſs, so seid ihr im Stande, zu diesem Berg zu sprechen: hebe dich weg und wirf dich in's Meer (Matth. 21, 21.), oder zu diesem Baume: entwurzle dich und pflan- ze dich in den Meeresgrund (Luc. 17, 6.), und beides mit 5) vgl. Saunier, über die Quellen des Markus, S. 82. 12 *

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/198>, abgerufen am 24.11.2024.