hen haben, beweise nichts, da ja Jesus ihre Deutung nir- gends billige 2). Doch auch missbilligt hat er sie nicht, unerachtet er den Eindruck wohl bemerken musste, wel- chen von der bezeichneten Ansicht aus der Erfolg auf die Leute gemacht hatte; er müsste also absichtlich, wie Ven- turini wirklich annimmt, ihre hohe Meinung von seiner Wundermacht nicht haben stören wollen, um sie desto fester an sich zu knüpfen. Noch ganz abgesehen hievon aber, wie sollte die natürlichen Vorzeichen von dem Ende des Sturmes Jesus, der nie einen Beruf auf dem See ge- habt hatte, besser verstanden haben, als ein Petrus, Ja- kobus, Johannes, welche von Jugend an auf demselben einheimisch waren 3)? Endlich, wie konnte, wenn Mat- thäus, zwar damals noch nicht in der Gesellschaft Jesu, doch ohne Zweifel von den übrigen Jüngern als Augen- zeugen den Hergang vernommen hat, von diesen dem blo- sen Räsonniren Jesu über das Wetter der Sinn eines epi- timan gegeben werden?
Es bleibt also dabei: so, wie die Evangelisten uns den Vorgang erzählen, müssen wir in demselben ein Wun- der erkennen; dieses nun aber vom exegetischen Ergeb- niss zum wirklichen Faktum zu erheben, fällt nach dem oben Ausgeführten äusserst schwer, woraus gegen den hi- storischen Charakter der Erzählung ein Verdacht erwächst. Näher jedoch lässt sich, den Matthäus zum Grund gelegt, gegen die Erzählung bis zur Mitte von V. 26. nichts ein- wenden, sondern Jesus könnte bei seinen öfteren Fahrten auf dem galiläischen See wirklich einmal geschlafen haben, als ein Sturm ausbrach, die Jünger könnten ihn mit Sehre- cken erweckt, er aber ruhig und gefasst das ti deiloi ese, oligopisoi; zu ihnen gesprochen haben. Was dann wei-
2) so Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 468 ff. Venturini, 2, S. 166 ff. Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 197. Auch Hase, §. 74, findet die- se Ansicht möglich.
3)Hase, a. a. O.
Das Leben Jesu II. Band. 12
Neuntes Kapitel. §. 97.
hen haben, beweise nichts, da ja Jesus ihre Deutung nir- gends billige 2). Doch auch miſsbilligt hat er sie nicht, unerachtet er den Eindruck wohl bemerken muſste, wel- chen von der bezeichneten Ansicht aus der Erfolg auf die Leute gemacht hatte; er müſste also absichtlich, wie Ven- turini wirklich annimmt, ihre hohe Meinung von seiner Wundermacht nicht haben stören wollen, um sie desto fester an sich zu knüpfen. Noch ganz abgesehen hievon aber, wie sollte die natürlichen Vorzeichen von dem Ende des Sturmes Jesus, der nie einen Beruf auf dem See ge- habt hatte, besser verstanden haben, als ein Petrus, Ja- kobus, Johannes, welche von Jugend an auf demselben einheimisch waren 3)? Endlich, wie konnte, wenn Mat- thäus, zwar damals noch nicht in der Gesellschaft Jesu, doch ohne Zweifel von den übrigen Jüngern als Augen- zeugen den Hergang vernommen hat, von diesen dem blo- sen Räsonniren Jesu über das Wetter der Sinn eines ἐπι- τιμᾷν gegeben werden?
Es bleibt also dabei: so, wie die Evangelisten uns den Vorgang erzählen, müssen wir in demselben ein Wun- der erkennen; dieses nun aber vom exegetischen Ergeb- niſs zum wirklichen Faktum zu erheben, fällt nach dem oben Ausgeführten äusserst schwer, woraus gegen den hi- storischen Charakter der Erzählung ein Verdacht erwächst. Näher jedoch läſst sich, den Matthäus zum Grund gelegt, gegen die Erzählung bis zur Mitte von V. 26. nichts ein- wenden, sondern Jesus könnte bei seinen öfteren Fahrten auf dem galiläischen See wirklich einmal geschlafen haben, als ein Sturm ausbrach, die Jünger könnten ihn mit Sehre- cken erweckt, er aber ruhig und gefaſst das τί δειλοί ἐςε, ὀλιγόπιςοι; zu ihnen gesprochen haben. Was dann wei-
2) so Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 468 ff. Venturini, 2, S. 166 ff. Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 197. Auch Hase, §. 74, findet die- se Ansicht möglich.
3)Hase, a. a. O.
Das Leben Jesu II. Band. 12
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Neuntes Kapitel. §. 97.
hen haben, beweise nichts, da ja Jesus ihre Deutung nir-
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unerachtet er den Eindruck wohl bemerken muſste, wel-
chen von der bezeichneten Ansicht aus der Erfolg auf die
Leute gemacht hatte; er müſste also absichtlich, wie Ven-
turini wirklich annimmt, ihre hohe Meinung von seiner
Wundermacht nicht haben stören wollen, um sie desto
fester an sich zu knüpfen. Noch ganz abgesehen hievon
aber, wie sollte die natürlichen Vorzeichen von dem Ende
des Sturmes Jesus, der nie einen Beruf auf dem See ge-
habt hatte, besser verstanden haben, als ein Petrus, Ja-
kobus, Johannes, welche von Jugend an auf demselben
einheimisch waren 3)? Endlich, wie konnte, wenn Mat-
thäus, zwar damals noch nicht in der Gesellschaft Jesu,
doch ohne Zweifel von den übrigen Jüngern als Augen-
zeugen den Hergang vernommen hat, von diesen dem blo-
sen Räsonniren Jesu über das Wetter der Sinn eines ἐπι-
τιμᾷν gegeben werden?
Es bleibt also dabei: so, wie die Evangelisten uns
den Vorgang erzählen, müssen wir in demselben ein Wun-
der erkennen; dieses nun aber vom exegetischen Ergeb-
niſs zum wirklichen Faktum zu erheben, fällt nach dem
oben Ausgeführten äusserst schwer, woraus gegen den hi-
storischen Charakter der Erzählung ein Verdacht erwächst.
Näher jedoch läſst sich, den Matthäus zum Grund gelegt,
gegen die Erzählung bis zur Mitte von V. 26. nichts ein-
wenden, sondern Jesus könnte bei seinen öfteren Fahrten
auf dem galiläischen See wirklich einmal geschlafen haben,
als ein Sturm ausbrach, die Jünger könnten ihn mit Sehre-
cken erweckt, er aber ruhig und gefaſst das τί δειλοί ἐςε,
ὀλιγόπιςοι; zu ihnen gesprochen haben. Was dann wei-
2) so Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 468 ff. Venturini, 2, S. 166 ff.
Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 197. Auch Hase, §. 74, findet die-
se Ansicht möglich.
3) Hase, a. a. O.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/196>, abgerufen am 22.11.2024.
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