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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
die Beschwichtigung des Meeres durch ein blosses Wort
gewesen wäre. Die Sache hat aber noch eine andere Sei-
te, indem die Herrschaft des Menschen über die Natur
nicht bloss eine in sie eingreifende, praktische, sondern
auch eine immanente oder theoretische ist, vermöge wel-
cher der Mensch, auch wo er äusserlich der Macht des
Elementes unterliegt, doch innerlich nicht von derselben
besiegt wird, sondern in der Überzeugung, dass die Na-
turgewalt nur das Natürliche an ihm zu zerstören vermö-
ge, sich in der Selbstgewissheit des Geistes über den mög-
lichen Untergang seiner Natürlichkeit emporhebt. Diese
geistige Macht, sagt man, bewies Jesus, indem er mitten
im Sturme ruhig schlief, und, von den zagenden Jüngern
aufgeweckt, ihnen Muth einsprach. Da jedoch, wenn
Muth bewiesen werden soll, wirkliche Gefahr vorhanden
sein muss, für Jesum aber, sofern er sich als die unmit-
telbare Macht über die Natur wusste, eine solche gar nicht
vorhanden war: so hätte er auch von dieser theoretischen
Macht keine wahre Probe hier abgelegt.

In beiden Hinsichten hat die natürliche Erklärung in
der evangelischen Erzählung nur das Denkbare und Wün-
schenswerthe Jesu zugeschrieben finden wollen, nämlich
einerseits verständige Beobachtung des Gangs der Witte-
rung, andererseits hohen Muth bei wirklicher Gefahr des
Untergangs. Das epitiman tois anemois soll nur in einem
Sprechen über den Sturm, in einigen Ausrufungen über
seine Heftigkeit, das Stillegebieten in der auf Beobachtung
gewisser Zeichen gegründeten Voraussage bestanden haben,
dass der Sturm sich nun wohl bald legen werde, und der
Zuspruch an die Jünger soll, wie jener bekannte von Cä-
sar, nur aus dem Vertrauen hervorgegangen sein, dass ein
Mann, auf welchen in der Weltgeschichte gerechnet sei,
nicht so leicht durch Zufälle aus seiner Bahn herausge-
worfen werde. Dass hierauf die im Schiff Befindlichen die
Stillung des Sturms als Wirkung der Worte Jesu angese-

Zweiter Abschnitt.
die Beschwichtigung des Meeres durch ein bloſses Wort
gewesen wäre. Die Sache hat aber noch eine andere Sei-
te, indem die Herrschaft des Menschen über die Natur
nicht bloſs eine in sie eingreifende, praktische, sondern
auch eine immanente oder theoretische ist, vermöge wel-
cher der Mensch, auch wo er äusserlich der Macht des
Elementes unterliegt, doch innerlich nicht von derselben
besiegt wird, sondern in der Überzeugung, daſs die Na-
turgewalt nur das Natürliche an ihm zu zerstören vermö-
ge, sich in der Selbstgewiſsheit des Geistes über den mög-
lichen Untergang seiner Natürlichkeit emporhebt. Diese
geistige Macht, sagt man, bewies Jesus, indem er mitten
im Sturme ruhig schlief, und, von den zagenden Jüngern
aufgeweckt, ihnen Muth einsprach. Da jedoch, wenn
Muth bewiesen werden soll, wirkliche Gefahr vorhanden
sein muſs, für Jesum aber, sofern er sich als die unmit-
telbare Macht über die Natur wuſste, eine solche gar nicht
vorhanden war: so hätte er auch von dieser theoretischen
Macht keine wahre Probe hier abgelegt.

In beiden Hinsichten hat die natürliche Erklärung in
der evangelischen Erzählung nur das Denkbare und Wün-
schenswerthe Jesu zugeschrieben finden wollen, nämlich
einerseits verständige Beobachtung des Gangs der Witte-
rung, andererseits hohen Muth bei wirklicher Gefahr des
Untergangs. Das ἐπιτιμᾷν τοῖς ἀνέμοις soll nur in einem
Sprechen über den Sturm, in einigen Ausrufungen über
seine Heftigkeit, das Stillegebieten in der auf Beobachtung
gewisser Zeichen gegründeten Voraussage bestanden haben,
daſs der Sturm sich nun wohl bald legen werde, und der
Zuspruch an die Jünger soll, wie jener bekannte von Cä-
sar, nur aus dem Vertrauen hervorgegangen sein, daſs ein
Mann, auf welchen in der Weltgeschichte gerechnet sei,
nicht so leicht durch Zufälle aus seiner Bahn herausge-
worfen werde. Daſs hierauf die im Schiff Befindlichen die
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[176/0195] Zweiter Abschnitt. die Beschwichtigung des Meeres durch ein bloſses Wort gewesen wäre. Die Sache hat aber noch eine andere Sei- te, indem die Herrschaft des Menschen über die Natur nicht bloſs eine in sie eingreifende, praktische, sondern auch eine immanente oder theoretische ist, vermöge wel- cher der Mensch, auch wo er äusserlich der Macht des Elementes unterliegt, doch innerlich nicht von derselben besiegt wird, sondern in der Überzeugung, daſs die Na- turgewalt nur das Natürliche an ihm zu zerstören vermö- ge, sich in der Selbstgewiſsheit des Geistes über den mög- lichen Untergang seiner Natürlichkeit emporhebt. Diese geistige Macht, sagt man, bewies Jesus, indem er mitten im Sturme ruhig schlief, und, von den zagenden Jüngern aufgeweckt, ihnen Muth einsprach. Da jedoch, wenn Muth bewiesen werden soll, wirkliche Gefahr vorhanden sein muſs, für Jesum aber, sofern er sich als die unmit- telbare Macht über die Natur wuſste, eine solche gar nicht vorhanden war: so hätte er auch von dieser theoretischen Macht keine wahre Probe hier abgelegt. In beiden Hinsichten hat die natürliche Erklärung in der evangelischen Erzählung nur das Denkbare und Wün- schenswerthe Jesu zugeschrieben finden wollen, nämlich einerseits verständige Beobachtung des Gangs der Witte- rung, andererseits hohen Muth bei wirklicher Gefahr des Untergangs. Das ἐπιτιμᾷν τοῖς ἀνέμοις soll nur in einem Sprechen über den Sturm, in einigen Ausrufungen über seine Heftigkeit, das Stillegebieten in der auf Beobachtung gewisser Zeichen gegründeten Voraussage bestanden haben, daſs der Sturm sich nun wohl bald legen werde, und der Zuspruch an die Jünger soll, wie jener bekannte von Cä- sar, nur aus dem Vertrauen hervorgegangen sein, daſs ein Mann, auf welchen in der Weltgeschichte gerechnet sei, nicht so leicht durch Zufälle aus seiner Bahn herausge- worfen werde. Daſs hierauf die im Schiff Befindlichen die Stillung des Sturms als Wirkung der Worte Jesu angese-

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/195>, abgerufen am 24.11.2024.