Diese und ähnliche Erwägungen sind es wohl gewe- sen, welche einen der neuesten Sprecher in der Streitsa- che des ersten Evangeliums zu einer Rüge der Einseitig- keit veranlassten, mit welcher man die obige Frage immer nur zum Nachtheil der Synoptiker und namentlich des Matthäus beantwortet habe, ohne daran zu denken, dass ebenso nahe eine dem vierten Evangelium gefährliche Ant- wort liege 53), und auch uns schrecken Lücke's Bannstrah- len, welcher auch in der neuen Ausgabe demjenigen, der aus dem Schweigen der Synoptiker auf Erdichtung dieser Erzählung und Unächtheit des johanneischen Evangeliums schliesst, eine Akrisie sonder Gleichen und gänzlichen Man- gel an Einsicht in das Verhältniss unsrer Evangelien zu einander (wie es nämlich die geistliche Sicherheit der Theo- logen, auch durch die zum Theil treffenden Winke der Proba-
Familie überhaupt sei nun auch dieses einzelne auf sie sich beziehende Faktum unbekannt geblieben. Allein was sollte die Apostel zu einem solchen Zurückhalten bewogen haben? sollen wir denn an geheime, oder mit Venturini an zarte Verbindungen denken? sollte bei Jesu nicht auch ein sol- ches Privatverhältniss des Erbaulichen viel gehabt haben? Wirklich enthalten ja die Proben, welche uns Johannes und Lukas von dem Verhältniss Jesu zu der bezeichneten Fami- lie geben, dessen viel, und aus der Erzählung des Lezteren von dem Besuch Jesu bei Martha und Maria sehen wir zu- gleich, dass auch die apostolische Verkündigung keineswegs abgeneigt war, etwas von jenem Verhältniss sehen zu lassen, sofern es allgemeines Interesse gewähren konnte. In dieser Hinsicht ragte nun aber die Auferweckung des Lazarus als eminentes Wunder ohne Vergleichung weiter als jener Be- such mit seinem enos esi khreia über das Privatverhältniss Je- su zur Bethanischen Familie hinaus: das vorausgesezte Stre- ben, dieses geheim zu halten, konnte der Verbreitung von jener nicht in den Weg treten.
53)Kern, über den Ursprung des Evang. Matth. Tüb. Zeitschrift, 1834, 2, S. 110.
Zweiter Abschnitt.
Diese und ähnliche Erwägungen sind es wohl gewe- sen, welche einen der neuesten Sprecher in der Streitsa- che des ersten Evangeliums zu einer Rüge der Einseitig- keit veranlaſsten, mit welcher man die obige Frage immer nur zum Nachtheil der Synoptiker und namentlich des Matthäus beantwortet habe, ohne daran zu denken, daſs ebenso nahe eine dem vierten Evangelium gefährliche Ant- wort liege 53), und auch uns schrecken Lücke's Bannstrah- len, welcher auch in der neuen Ausgabe demjenigen, der aus dem Schweigen der Synoptiker auf Erdichtung dieser Erzählung und Unächtheit des johanneischen Evangeliums schlieſst, eine Akrisie sonder Gleichen und gänzlichen Man- gel an Einsicht in das Verhältniſs unsrer Evangelien zu einander (wie es nämlich die geistliche Sicherheit der Theo- logen, auch durch die zum Theil treffenden Winke der Proba-
Familie überhaupt sei nun auch dieses einzelne auf sie sich beziehende Faktum unbekannt geblieben. Allein was sollte die Apostel zu einem solchen Zurückhalten bewogen haben? sollen wir denn an geheime, oder mit Venturini an zarte Verbindungen denken? sollte bei Jesu nicht auch ein sol- ches Privatverhältniss des Erbaulichen viel gehabt haben? Wirklich enthalten ja die Proben, welche uns Johannes und Lukas von dem Verhältniss Jesu zu der bezeichneten Fami- lie geben, dessen viel, und aus der Erzählung des Lezteren von dem Besuch Jesu bei Martha und Maria sehen wir zu- gleich, dass auch die apostolische Verkündigung keineswegs abgeneigt war, etwas von jenem Verhältniss sehen zu lassen, sofern es allgemeines Interesse gewähren konnte. In dieser Hinsicht ragte nun aber die Auferweckung des Lazarus als eminentes Wunder ohne Vergleichung weiter als jener Be- such mit seinem ἑνός ἐςι χρεία über das Privatverhältniss Je- su zur Bethanischen Familie hinaus: das vorausgesezte Stre- ben, dieses geheim zu halten, konnte der Verbreitung von jener nicht in den Weg treten.
53)Kern, über den Ursprung des Evang. Matth. Tüb. Zeitschrift, 1834, 2, S. 110.
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Zweiter Abschnitt.
Diese und ähnliche Erwägungen sind es wohl gewe-
sen, welche einen der neuesten Sprecher in der Streitsa-
che des ersten Evangeliums zu einer Rüge der Einseitig-
keit veranlaſsten, mit welcher man die obige Frage immer
nur zum Nachtheil der Synoptiker und namentlich des
Matthäus beantwortet habe, ohne daran zu denken, daſs
ebenso nahe eine dem vierten Evangelium gefährliche Ant-
wort liege 53), und auch uns schrecken Lücke's Bannstrah-
len, welcher auch in der neuen Ausgabe demjenigen, der
aus dem Schweigen der Synoptiker auf Erdichtung dieser
Erzählung und Unächtheit des johanneischen Evangeliums
schlieſst, eine Akrisie sonder Gleichen und gänzlichen Man-
gel an Einsicht in das Verhältniſs unsrer Evangelien zu
einander (wie es nämlich die geistliche Sicherheit der Theo-
logen, auch durch die zum Theil treffenden Winke der Proba-
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53) Kern, über den Ursprung des Evang. Matth. Tüb. Zeitschrift,
1834, 2, S. 110.
52) Familie überhaupt sei nun auch dieses einzelne auf sie sich
beziehende Faktum unbekannt geblieben. Allein was sollte
die Apostel zu einem solchen Zurückhalten bewogen haben?
sollen wir denn an geheime, oder mit Venturini an zarte
Verbindungen denken? sollte bei Jesu nicht auch ein sol-
ches Privatverhältniss des Erbaulichen viel gehabt haben?
Wirklich enthalten ja die Proben, welche uns Johannes und
Lukas von dem Verhältniss Jesu zu der bezeichneten Fami-
lie geben, dessen viel, und aus der Erzählung des Lezteren
von dem Besuch Jesu bei Martha und Maria sehen wir zu-
gleich, dass auch die apostolische Verkündigung keineswegs
abgeneigt war, etwas von jenem Verhältniss sehen zu lassen,
sofern es allgemeines Interesse gewähren konnte. In dieser
Hinsicht ragte nun aber die Auferweckung des Lazarus als
eminentes Wunder ohne Vergleichung weiter als jener Be-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/189>, abgerufen am 16.02.2025.
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