In Bezug nun auf den vorauszusetzenden wirklichen Hergang der Sache tritt die natürliche Erklärung hier ganz besonders zuversichtlich auf, indem sie Jesu eigene Versicherung für sich zu haben glaubt, dass das Mädchen nicht wirklich todt sei, sondern nur in einem schlafähnlichen Zustand der Ohnmacht sich befinde, und nicht bloss entschie- den rationalistische Ausleger, wie Paulus, oder halbratio- nalistische, wie Schleiermacher, sondern auch entschieden supranaturalistische Theologen, wie Olshausen, glauben um der bezeichneten Erklärung Jesu willen hier an keine Todtenerweckung denken zu dürfen 10). Der zulezt ge- nannte Erklärer legt besonders auf den Gegensaz in der Rede Jesu Gewicht, und meint, weil zu dem ouk apethane noch das alla katheudei gesezt sei, so könne der erstere Ausdruck nicht bloss so gefasst werden: sie ist nicht todt, indem ich den Vorsaz habe, sie zu erwecken -- wunder- lich, da doch dieser Zusaz gerade anzeigt, dass sie nur in- sofern nicht gestorben sei, als Jesus sie zu erwecken ver- möge. Man beruft sich ferner auf die Erklärung Jesu über den Lazarus, Joh. 11, 14, welche mit ihrem Lazaros ape- thane der gerade Gegensaz zu unserem ouk apethane to kora- sion sei. Aber vorher hatte Jesus doch auch von Lazarus gesagt: aute e astheneia ouk esi pros thanaton (V. 4.) und: Lazaros o philos emon kekoimetai (V. 11.), also ganz die- selbe Leugnung des Todes und Behauptung eines blossen Schlafes, wie hier, und doch bei einem wirklich Gestorbe- nen. Gewiss hat demnach Fritzsche recht, wenn er den Sinn der Worte Jesu in unsrer Stelle so angiebt: puel- lam ne pro mortua habetote, sed dormire existimatote, quippe in vitam mox redituram. Ohnehin, wenn Mat- thäus 11, 5. Jesum sagen lässt: nekroi egeirontai, so seheint er, der sonst keine Todtenerweckung erzählt, eben an die- se gedacht haben zu müssen.
10)Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 526. 31 f. Schleiermacher, a. a. O. S. 132. Olshausen, 1, S. 327.
Zweiter Abschnitt.
In Bezug nun auf den vorauszusetzenden wirklichen Hergang der Sache tritt die natürliche Erklärung hier ganz besonders zuversichtlich auf, indem sie Jesu eigene Versicherung für sich zu haben glaubt, daſs das Mädchen nicht wirklich todt sei, sondern nur in einem schlafähnlichen Zustand der Ohnmacht sich befinde, und nicht bloſs entschie- den rationalistische Ausleger, wie Paulus, oder halbratio- nalistische, wie Schleiermacher, sondern auch entschieden supranaturalistische Theologen, wie Olshausen, glauben um der bezeichneten Erklärung Jesu willen hier an keine Todtenerweckung denken zu dürfen 10). Der zulezt ge- nannte Erklärer legt besonders auf den Gegensaz in der Rede Jesu Gewicht, und meint, weil zu dem οὐκ ἀπέϑανε noch das ἀλλὰ καϑεύδει gesezt sei, so könne der erstere Ausdruck nicht bloſs so gefaſst werden: sie ist nicht todt, indem ich den Vorsaz habe, sie zu erwecken — wunder- lich, da doch dieser Zusaz gerade anzeigt, daſs sie nur in- sofern nicht gestorben sei, als Jesus sie zu erwecken ver- möge. Man beruft sich ferner auf die Erklärung Jesu über den Lazarus, Joh. 11, 14, welche mit ihrem Λάζαρος ἀπέ- ϑανε der gerade Gegensaz zu unserem οὐκ ἀπέϑανε τὸ κορά- σιον sei. Aber vorher hatte Jesus doch auch von Lazarus gesagt: αὕτη ἡ ἀσϑένεια ουκ ἔςι πρὸς ϑάνατον (V. 4.) und: Λάζαρος ὁ φίλος ἡμῶν κεκοίμηται (V. 11.), also ganz die- selbe Leugnung des Todes und Behauptung eines bloſsen Schlafes, wie hier, und doch bei einem wirklich Gestorbe- nen. Gewiſs hat demnach Fritzsche recht, wenn er den Sinn der Worte Jesu in unsrer Stelle so angiebt: puel- lam ne pro mortua habetote, sed dormire existimatote, quippe in vitam mox redituram. Ohnehin, wenn Mat- thäus 11, 5. Jesum sagen läſst: νεκροὶ ἐγείρονται, so seheint er, der sonst keine Todtenerweckung erzählt, eben an die- se gedacht haben zu müssen.
10)Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 526. 31 f. Schleiermacher, a. a. O. S. 132. Olshausen, 1, S. 327.
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Zweiter Abschnitt.
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Hergang der Sache tritt die natürliche Erklärung hier
ganz besonders zuversichtlich auf, indem sie Jesu eigene
Versicherung für sich zu haben glaubt, daſs das Mädchen
nicht wirklich todt sei, sondern nur in einem schlafähnlichen
Zustand der Ohnmacht sich befinde, und nicht bloſs entschie-
den rationalistische Ausleger, wie Paulus, oder halbratio-
nalistische, wie Schleiermacher, sondern auch entschieden
supranaturalistische Theologen, wie Olshausen, glauben
um der bezeichneten Erklärung Jesu willen hier an keine
Todtenerweckung denken zu dürfen 10). Der zulezt ge-
nannte Erklärer legt besonders auf den Gegensaz in der
Rede Jesu Gewicht, und meint, weil zu dem οὐκ ἀπέϑανε
noch das ἀλλὰ καϑεύδει gesezt sei, so könne der erstere
Ausdruck nicht bloſs so gefaſst werden: sie ist nicht todt,
indem ich den Vorsaz habe, sie zu erwecken — wunder-
lich, da doch dieser Zusaz gerade anzeigt, daſs sie nur in-
sofern nicht gestorben sei, als Jesus sie zu erwecken ver-
möge. Man beruft sich ferner auf die Erklärung Jesu über
den Lazarus, Joh. 11, 14, welche mit ihrem Λάζαρος ἀπέ-
ϑανε der gerade Gegensaz zu unserem οὐκ ἀπέϑανε τὸ κορά-
σιον sei. Aber vorher hatte Jesus doch auch von Lazarus
gesagt: αὕτη ἡ ἀσϑένεια ουκ ἔςι πρὸς ϑάνατον (V. 4.) und:
Λάζαρος ὁ φίλος ἡμῶν κεκοίμηται (V. 11.), also ganz die-
selbe Leugnung des Todes und Behauptung eines bloſsen
Schlafes, wie hier, und doch bei einem wirklich Gestorbe-
nen. Gewiſs hat demnach Fritzsche recht, wenn er den
Sinn der Worte Jesu in unsrer Stelle so angiebt: puel-
lam ne pro mortua habetote, sed dormire existimatote,
quippe in vitam mox redituram. Ohnehin, wenn Mat-
thäus 11, 5. Jesum sagen läſst: νεκροὶ ἐγείρονται, so seheint
er, der sonst keine Todtenerweckung erzählt, eben an die-
se gedacht haben zu müssen.
10) Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 526. 31 f. Schleiermacher, a.
a. O. S. 132. Olshausen, 1, S. 327.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/157>, abgerufen am 24.11.2024.
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