nöthig gehabt haben; oder endlich, wenn an der Annahme rationalistischer Erklärer etwas Wahres ist, dass Jesus in orientalischer, namentlich essenischer Weise neben der Seelenheilung auch mit leiblicher sich befasst habe, so kann er hiebei, wenn er der Aufforderung hiezu auch am Sabbat nicht widerstand, zu einer solchen Apologie ver- anlasst gewesen sein; nur dass wir dann immer nicht mit jenen Auslegern in den einzelnen übernatürlichen Heilun- gen, welche die Evangelien melden, die zum Grunde lie- genden natürlichen aufsuchen dürften, sondern wir müss- ten eingestehen, dass uns diese ganz verloren, und jene an ihre Stelle getreten seien 16). Übrigens müssen es nicht einmal Heilungen überhaupt gewesen sein, an welche sich jener Ausspruch Jesu knüpfte, sondern jeder als Lebens- rettung oder Lebenserhaltung zu betrachtende und mit äus- serer Geschäftigkeit verbundene Dienst, den er oder seine Jünger leisteten, konnte ihm der pharisäischen Partei ge- genüber Anlass zu einer solchen Vertheidigung werden.
Von den zwei Sabbatheilungen des vierten Evange- liums ist die eine schon mit den Blindenheilungen betrach- tet worden; die andere (5, 1 ff.), welche unter den Hei- lungen der Paralytischen vorgenommen werden konnte, liess sich, weil doch der Kranke nicht mit jenem Ausdruck bezeichnet ist, hieher versparen. In den Hallen des Teichs Bethesda in Jerusalem fand Jesus einen schon 38 Jahre, wie aus dem Folgenden erhellt, an Lähmung kranken Men- schen, welchen er mit einem Worte zum Aufstehen und Heimtragen seines Bettes befähigt, dadurch jedoch, weil es
16) Treffend Winer, b. Realw. 1, S. 796: "man sollte sich doch bescheiden, [von den Heilungen Jesu] nicht in den ein- zelnen Fällen eine natürliche Erklärung geben zu wol- len, und immer bedenken, dass die Verbannung des Wun- derbaren aus der Wirksamkeit Jesu, so lange die Evan- gelien geschichtlich betrachtet werden, nie- mals gelingen kann."
Das Leben Jesu II. Band. 9
Neuntes Kapitel. §. 95.
nöthig gehabt haben; oder endlich, wenn an der Annahme rationalistischer Erklärer etwas Wahres ist, daſs Jesus in orientalischer, namentlich essenischer Weise neben der Seelenheilung auch mit leiblicher sich befaſst habe, so kann er hiebei, wenn er der Aufforderung hiezu auch am Sabbat nicht widerstand, zu einer solchen Apologie ver- anlaſst gewesen sein; nur daſs wir dann immer nicht mit jenen Auslegern in den einzelnen übernatürlichen Heilun- gen, welche die Evangelien melden, die zum Grunde lie- genden natürlichen aufsuchen dürften, sondern wir müſs- ten eingestehen, daſs uns diese ganz verloren, und jene an ihre Stelle getreten seien 16). Übrigens müssen es nicht einmal Heilungen überhaupt gewesen sein, an welche sich jener Ausspruch Jesu knüpfte, sondern jeder als Lebens- rettung oder Lebenserhaltung zu betrachtende und mit äus- serer Geschäftigkeit verbundene Dienst, den er oder seine Jünger leisteten, konnte ihm der pharisäischen Partei ge- genüber Anlaſs zu einer solchen Vertheidigung werden.
Von den zwei Sabbatheilungen des vierten Evange- liums ist die eine schon mit den Blindenheilungen betrach- tet worden; die andere (5, 1 ff.), welche unter den Hei- lungen der Paralytischen vorgenommen werden konnte, lieſs sich, weil doch der Kranke nicht mit jenem Ausdruck bezeichnet ist, hieher versparen. In den Hallen des Teichs Bethesda in Jerusalem fand Jesus einen schon 38 Jahre, wie aus dem Folgenden erhellt, an Lähmung kranken Men- schen, welchen er mit einem Worte zum Aufstehen und Heimtragen seines Bettes befähigt, dadurch jedoch, weil es
16) Treffend Winer, b. Realw. 1, S. 796: „man sollte sich doch bescheiden, [von den Heilungen Jesu] nicht in den ein- zelnen Fällen eine natürliche Erklärung geben zu wol- len, und immer bedenken, dass die Verbannung des Wun- derbaren aus der Wirksamkeit Jesu, so lange die Evan- gelien geschichtlich betrachtet werden, nie- mals gelingen kann.“
Das Leben Jesu II. Band. 9
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Neuntes Kapitel. §. 95.
nöthig gehabt haben; oder endlich, wenn an der Annahme
rationalistischer Erklärer etwas Wahres ist, daſs Jesus in
orientalischer, namentlich essenischer Weise neben der
Seelenheilung auch mit leiblicher sich befaſst habe, so
kann er hiebei, wenn er der Aufforderung hiezu auch am
Sabbat nicht widerstand, zu einer solchen Apologie ver-
anlaſst gewesen sein; nur daſs wir dann immer nicht mit
jenen Auslegern in den einzelnen übernatürlichen Heilun-
gen, welche die Evangelien melden, die zum Grunde lie-
genden natürlichen aufsuchen dürften, sondern wir müſs-
ten eingestehen, daſs uns diese ganz verloren, und jene an
ihre Stelle getreten seien 16). Übrigens müssen es nicht
einmal Heilungen überhaupt gewesen sein, an welche sich
jener Ausspruch Jesu knüpfte, sondern jeder als Lebens-
rettung oder Lebenserhaltung zu betrachtende und mit äus-
serer Geschäftigkeit verbundene Dienst, den er oder seine
Jünger leisteten, konnte ihm der pharisäischen Partei ge-
genüber Anlaſs zu einer solchen Vertheidigung werden.
Von den zwei Sabbatheilungen des vierten Evange-
liums ist die eine schon mit den Blindenheilungen betrach-
tet worden; die andere (5, 1 ff.), welche unter den Hei-
lungen der Paralytischen vorgenommen werden konnte,
lieſs sich, weil doch der Kranke nicht mit jenem Ausdruck
bezeichnet ist, hieher versparen. In den Hallen des Teichs
Bethesda in Jerusalem fand Jesus einen schon 38 Jahre,
wie aus dem Folgenden erhellt, an Lähmung kranken Men-
schen, welchen er mit einem Worte zum Aufstehen und
Heimtragen seines Bettes befähigt, dadurch jedoch, weil es
16) Treffend Winer, b. Realw. 1, S. 796: „man sollte sich doch
bescheiden, [von den Heilungen Jesu] nicht in den ein-
zelnen Fällen eine natürliche Erklärung geben zu wol-
len, und immer bedenken, dass die Verbannung des Wun-
derbaren aus der Wirksamkeit Jesu, so lange die Evan-
gelien geschichtlich betrachtet werden, nie-
mals gelingen kann.“
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/148>, abgerufen am 22.07.2024.
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