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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
Heikraft in dem vermeintlichen Wunderthäter, einzig durch
das überschwengliche Zutrauen des Kranken zu demsel-
ben, körperliche Leiden, welche mit dem Nervensystem in
engerem Zusammenhang stehen, geheilt werden können:
wenn nun aber die Psychologie geschichtliche Belege hie-
für aufsucht, so wird die Kritik, welche sie hiebei zu Hül-
fe zu nehmen hat, bald finden, dass eine weit grössere Zahl
von dergleichen Kuren durch den Glauben Anderer erdich-
tet, als durch den angeblich dabei Betheiligter verrichtet
worden ist. So wäre es zwar keineswegs an sich un-
möglich, dass durch den starken Glauben an eine selbst
den Kleidern und Tüchern Jesu und der Apostel inwoh-
nende Heilkraft manche Kranke bei Berührung derselben
wirklich Besserung verspürt hätten: aber mindestens eben-
sogut lässt sich denken, dass man erst später, als nach
dem Tode jener Männer ihr Ansehen in der Gemeinde im-
mer höher stieg, dergleichen sich glaubig erzählt habe, und
es kommt auf die Beschaffenheit der Berichte hierüber an,
für welche von beiden Annahmen man sich zu entscheiden
hat. An den allgemeinen Angaben nun in den Evangelien
und der A. G., welche ganze Massen auf jene Weise ku-
rirt werden lassen, ist eben diese Häufung jedenfalls tra-
ditionell; die detaillirte Geschichte aber, welche wir bis-
her untersucht haben, hat darin, dass sie die Frau ganze
zwölf Jahre lang an einer sehr hartnäckigen und am we-
nigsten blos psychisch zu heilenden Krankheit leiden, und
die Heilung, statt durch die Einbildung der Kranken, durch
eine Jesu fühlbar entströmte Kraft vor sich gehen lässt,
so viel Mythisches, dass wir eine historische Grundlage
gar nicht mehr herausfinden können, und das Ganze als
Sage betrachten müssen.

Was diesem Zweige der evangelischen Wundersage im
Unterschied von andern sein Dasein gegeben hat, ist nicht
schwer zu sehen. Der sinnliche Glaube des Volks, unfä-
hig, das Göttliche mit dem Gedanken zu ergreifen, strebt,

Zweiter Abschnitt.
Heikraft in dem vermeintlichen Wunderthäter, einzig durch
das überschwengliche Zutrauen des Kranken zu demsel-
ben, körperliche Leiden, welche mit dem Nervensystem in
engerem Zusammenhang stehen, geheilt werden können:
wenn nun aber die Psychologie geschichtliche Belege hie-
für aufsucht, so wird die Kritik, welche sie hiebei zu Hül-
fe zu nehmen hat, bald finden, daſs eine weit gröſsere Zahl
von dergleichen Kuren durch den Glauben Anderer erdich-
tet, als durch den angeblich dabei Betheiligter verrichtet
worden ist. So wäre es zwar keineswegs an sich un-
möglich, daſs durch den starken Glauben an eine selbst
den Kleidern und Tüchern Jesu und der Apostel inwoh-
nende Heilkraft manche Kranke bei Berührung derselben
wirklich Besserung verspürt hätten: aber mindestens eben-
sogut läſst sich denken, daſs man erst später, als nach
dem Tode jener Männer ihr Ansehen in der Gemeinde im-
mer höher stieg, dergleichen sich glaubig erzählt habe, und
es kommt auf die Beschaffenheit der Berichte hierüber an,
für welche von beiden Annahmen man sich zu entscheiden
hat. An den allgemeinen Angaben nun in den Evangelien
und der A. G., welche ganze Massen auf jene Weise ku-
rirt werden lassen, ist eben diese Häufung jedenfalls tra-
ditionell; die detaillirte Geschichte aber, welche wir bis-
her untersucht haben, hat darin, daſs sie die Frau ganze
zwölf Jahre lang an einer sehr hartnäckigen und am we-
nigsten blos psychisch zu heilenden Krankheit leiden, und
die Heilung, statt durch die Einbildung der Kranken, durch
eine Jesu fühlbar entströmte Kraft vor sich gehen läſst,
so viel Mythisches, daſs wir eine historische Grundlage
gar nicht mehr herausfinden können, und das Ganze als
Sage betrachten müssen.

Was diesem Zweige der evangelischen Wundersage im
Unterschied von andern sein Dasein gegeben hat, ist nicht
schwer zu sehen. Der sinnliche Glaube des Volks, unfä-
hig, das Göttliche mit dem Gedanken zu ergreifen, strebt,

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[102/0121] Zweiter Abschnitt. Heikraft in dem vermeintlichen Wunderthäter, einzig durch das überschwengliche Zutrauen des Kranken zu demsel- ben, körperliche Leiden, welche mit dem Nervensystem in engerem Zusammenhang stehen, geheilt werden können: wenn nun aber die Psychologie geschichtliche Belege hie- für aufsucht, so wird die Kritik, welche sie hiebei zu Hül- fe zu nehmen hat, bald finden, daſs eine weit gröſsere Zahl von dergleichen Kuren durch den Glauben Anderer erdich- tet, als durch den angeblich dabei Betheiligter verrichtet worden ist. So wäre es zwar keineswegs an sich un- möglich, daſs durch den starken Glauben an eine selbst den Kleidern und Tüchern Jesu und der Apostel inwoh- nende Heilkraft manche Kranke bei Berührung derselben wirklich Besserung verspürt hätten: aber mindestens eben- sogut läſst sich denken, daſs man erst später, als nach dem Tode jener Männer ihr Ansehen in der Gemeinde im- mer höher stieg, dergleichen sich glaubig erzählt habe, und es kommt auf die Beschaffenheit der Berichte hierüber an, für welche von beiden Annahmen man sich zu entscheiden hat. An den allgemeinen Angaben nun in den Evangelien und der A. G., welche ganze Massen auf jene Weise ku- rirt werden lassen, ist eben diese Häufung jedenfalls tra- ditionell; die detaillirte Geschichte aber, welche wir bis- her untersucht haben, hat darin, daſs sie die Frau ganze zwölf Jahre lang an einer sehr hartnäckigen und am we- nigsten blos psychisch zu heilenden Krankheit leiden, und die Heilung, statt durch die Einbildung der Kranken, durch eine Jesu fühlbar entströmte Kraft vor sich gehen läſst, so viel Mythisches, daſs wir eine historische Grundlage gar nicht mehr herausfinden können, und das Ganze als Sage betrachten müssen. Was diesem Zweige der evangelischen Wundersage im Unterschied von andern sein Dasein gegeben hat, ist nicht schwer zu sehen. Der sinnliche Glaube des Volks, unfä- hig, das Göttliche mit dem Gedanken zu ergreifen, strebt,

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/121>, abgerufen am 24.11.2024.