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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 93.
Sage und Legende befindet; aber wodurch sollen sich von
diesen Kuren durch die Windeln Jesu die Heilungen durch
die Schweisstücher Pauli unterscheiden, als etwa dadurch,
dass jene von einem Kinde, diese von einem Erwachsenen
ausgehen? Gewiss, stände die leztere Nachricht nicht in
einem kanonischen Buche, so würde sie Jedermann für fa-
belhaft halten: und doch soll die Glaubwürdigkeit der Er-
zählungen nicht aus dem vorausgesezten Ursprung des Buchs,
das sie enthält, sondern die Ansicht von dem Buche muss
aus der Beschaffenheit seiner einzelnen Erzählungen er-
schlossen werden. Zwischen diesen Heilungen durch die
Schweisstücher aber und denen durch die Berührung des
Saums am Kleide findet wieder kein wesentlicher Unter-
schied statt. Beidemale eine Berührung von Gegenständen,
welche nur in äusserem Zusammenhang mit dem Wunder-
thäter stehen; nur dass dieser Zusammenhang bei den
abgelegten Schweisstüchern ein unterbrochener, bei dem
Gewande noch ein fortdauernder ist; beidemale aber
werden Erfolge, welche doch auch der orthodoxe Stand-
punkt nur aus dem geistigen Wesen jener Männer ablei-
ten, und als Akte ihres mit dem göttlichen einigen Willens
betrachten kann, zu physischen Wirkungen und Ausflüs-
sen gemacht. Steigt hiemit die Sache vom religiösen und
theologischen Standpunkt auf den natürlichen und physi-
kalischen herunter, weil ein Mensch mit einer solchen sei-
nem Körper inwohnenden und ihn als Atmosphäre umflies-
senden Heilkraft zu den Gegenständen der Naturkunde,
nicht mehr der Religion, gehören würde: so findet sich die
Naturwissenschaft ausser Stands, eine solche Heilkraft
durch sichere Analogieen oder klare Begriffe festzustellen,
und es fallen also jene Heilungen, vom objektiven Gebiet
auf das subjektive vertrieben, der Psychologie zur Begutach-
tung anheim. Diese wird nun allerdings, wenn sie die
Macht der Einbildung und des Glaubens in Rechnung
nimmt, für möglich erachten, dass ohne eine wirkliche

Neuntes Kapitel. §. 93.
Sage und Legende befindet; aber wodurch sollen sich von
diesen Kuren durch die Windeln Jesu die Heilungen durch
die Schweiſstücher Pauli unterscheiden, als etwa dadurch,
daſs jene von einem Kinde, diese von einem Erwachsenen
ausgehen? Gewiſs, stände die leztere Nachricht nicht in
einem kanonischen Buche, so würde sie Jedermann für fa-
belhaft halten: und doch soll die Glaubwürdigkeit der Er-
zählungen nicht aus dem vorausgesezten Ursprung des Buchs,
das sie enthält, sondern die Ansicht von dem Buche muſs
aus der Beschaffenheit seiner einzelnen Erzählungen er-
schlossen werden. Zwischen diesen Heilungen durch die
Schweiſstücher aber und denen durch die Berührung des
Saums am Kleide findet wieder kein wesentlicher Unter-
schied statt. Beidemale eine Berührung von Gegenständen,
welche nur in äusserem Zusammenhang mit dem Wunder-
thäter stehen; nur daſs dieser Zusammenhang bei den
abgelegten Schweiſstüchern ein unterbrochener, bei dem
Gewande noch ein fortdauernder ist; beidemale aber
werden Erfolge, welche doch auch der orthodoxe Stand-
punkt nur aus dem geistigen Wesen jener Männer ablei-
ten, und als Akte ihres mit dem göttlichen einigen Willens
betrachten kann, zu physischen Wirkungen und Ausflüs-
sen gemacht. Steigt hiemit die Sache vom religiösen und
theologischen Standpunkt auf den natürlichen und physi-
kalischen herunter, weil ein Mensch mit einer solchen sei-
nem Körper inwohnenden und ihn als Atmosphäre umflies-
senden Heilkraft zu den Gegenständen der Naturkunde,
nicht mehr der Religion, gehören würde: so findet sich die
Naturwissenschaft ausser Stands, eine solche Heilkraft
durch sichere Analogieen oder klare Begriffe festzustellen,
und es fallen also jene Heilungen, vom objektiven Gebiet
auf das subjektive vertrieben, der Psychologie zur Begutach-
tung anheim. Diese wird nun allerdings, wenn sie die
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[101/0120] Neuntes Kapitel. §. 93. Sage und Legende befindet; aber wodurch sollen sich von diesen Kuren durch die Windeln Jesu die Heilungen durch die Schweiſstücher Pauli unterscheiden, als etwa dadurch, daſs jene von einem Kinde, diese von einem Erwachsenen ausgehen? Gewiſs, stände die leztere Nachricht nicht in einem kanonischen Buche, so würde sie Jedermann für fa- belhaft halten: und doch soll die Glaubwürdigkeit der Er- zählungen nicht aus dem vorausgesezten Ursprung des Buchs, das sie enthält, sondern die Ansicht von dem Buche muſs aus der Beschaffenheit seiner einzelnen Erzählungen er- schlossen werden. Zwischen diesen Heilungen durch die Schweiſstücher aber und denen durch die Berührung des Saums am Kleide findet wieder kein wesentlicher Unter- schied statt. Beidemale eine Berührung von Gegenständen, welche nur in äusserem Zusammenhang mit dem Wunder- thäter stehen; nur daſs dieser Zusammenhang bei den abgelegten Schweiſstüchern ein unterbrochener, bei dem Gewande noch ein fortdauernder ist; beidemale aber werden Erfolge, welche doch auch der orthodoxe Stand- punkt nur aus dem geistigen Wesen jener Männer ablei- ten, und als Akte ihres mit dem göttlichen einigen Willens betrachten kann, zu physischen Wirkungen und Ausflüs- sen gemacht. Steigt hiemit die Sache vom religiösen und theologischen Standpunkt auf den natürlichen und physi- kalischen herunter, weil ein Mensch mit einer solchen sei- nem Körper inwohnenden und ihn als Atmosphäre umflies- senden Heilkraft zu den Gegenständen der Naturkunde, nicht mehr der Religion, gehören würde: so findet sich die Naturwissenschaft ausser Stands, eine solche Heilkraft durch sichere Analogieen oder klare Begriffe festzustellen, und es fallen also jene Heilungen, vom objektiven Gebiet auf das subjektive vertrieben, der Psychologie zur Begutach- tung anheim. Diese wird nun allerdings, wenn sie die Macht der Einbildung und des Glaubens in Rechnung nimmt, für möglich erachten, daſs ohne eine wirkliche

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/120>, abgerufen am 22.11.2024.