Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Einleitung. §. 12. betrügerischer Absichtlichkeit und schlauer Erdichtung statt-gefunden, sollte in unsrer Zeit nicht mehr zu bemerken nöthig sein. Sagen eines Volks oder einer Religionspartei sind ihren ächten Grundbestandtheilen nach nie das Werk eines Einzelnen, sondern des allgemeinen Individuums je- ner Gesellschaft, ebendaher auch nicht bewusst und ab- sichtlich entstanden. Ein solches unmerkliches gemeinsa- mes Produciren wird dadurch möglich, dass dabei die mündliche Ueberlieferung das Medium der Mittheilung ist; denn während durch die Aufzeichnung das Wachsthum der Sage sistirt, oder doch nachweisbar gemacht wird, wie viel jedem folgenden Schreiber Antheil an den Zuthaten gebühre: so kommt bei mündlicher Ueberlieferung die Sa- che so zu stehen, dass das Ueberlieferte im zweiten Munde vielleicht nur um Weniges anders sich gestaltet als im er- sten, im dritten ebenfalls nur Weniges hinzukommt im Verhältniss zum zweiten, auch im vierten dem dritten ge- genüber nichts Wesentliches geändert wird: und doch kann im dritten und vierten Munde der Gegenstand ein ganz an- drer geworden sein, als er im ersten war, ohne dass ir- gend ein einzelner Erzähler diese Änderung auf bewusste Weise vorgenommen hätte, sondern sie kommt auf Rech- nung aller zusammen, und entzieht sich eben um dieser Allmählichkeit willen dem Bewusstsein, wie diess schnee- ballartige Anwachsen der Tradition schon von Lessing in Bezug auf die evangelische Geschichte bemerkt worden ist 32). Nimmt man diess Alles zusammen, so wird der An- 32) Neue Hypothese über die Evangelisten, §. 5. Anmerkung.
Lessing's Werke, Berlin bei Voss, 6ter Bd. S. 229. Einleitung. §. 12. betrügerischer Absichtlichkeit und schlauer Erdichtung statt-gefunden, sollte in unsrer Zeit nicht mehr zu bemerken nöthig sein. Sagen eines Volks oder einer Religionspartei sind ihren ächten Grundbestandtheilen nach nie das Werk eines Einzelnen, sondern des allgemeinen Individuums je- ner Gesellschaft, ebendaher auch nicht bewuſst und ab- sichtlich entstanden. Ein solches unmerkliches gemeinsa- mes Produciren wird dadurch möglich, daſs dabei die mündliche Ueberlieferung das Medium der Mittheilung ist; denn während durch die Aufzeichnung das Wachsthum der Sage sistirt, oder doch nachweisbar gemacht wird, wie viel jedem folgenden Schreiber Antheil an den Zuthaten gebühre: so kommt bei mündlicher Ueberlieferung die Sa- che so zu stehen, daſs das Ueberlieferte im zweiten Munde vielleicht nur um Weniges anders sich gestaltet als im er- sten, im dritten ebenfalls nur Weniges hinzukommt im Verhältniſs zum zweiten, auch im vierten dem dritten ge- genüber nichts Wesentliches geändert wird: und doch kann im dritten und vierten Munde der Gegenstand ein ganz an- drer geworden sein, als er im ersten war, ohne daſs ir- gend ein einzelner Erzähler diese Änderung auf bewuſste Weise vorgenommen hätte, sondern sie kommt auf Rech- nung aller zusammen, und entzieht sich eben um dieser Allmählichkeit willen dem Bewuſstsein, wie dieſs schnee- ballartige Anwachsen der Tradition schon von Lessing in Bezug auf die evangelische Geschichte bemerkt worden ist 32). Nimmt man dieſs Alles zusammen, so wird der An- 32) Neue Hypothese über die Evangelisten, §. 5. Anmerkung.
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Einleitung. §. 12.
betrügerischer Absichtlichkeit und schlauer Erdichtung statt-
gefunden, sollte in unsrer Zeit nicht mehr zu bemerken
nöthig sein. Sagen eines Volks oder einer Religionspartei
sind ihren ächten Grundbestandtheilen nach nie das Werk
eines Einzelnen, sondern des allgemeinen Individuums je-
ner Gesellschaft, ebendaher auch nicht bewuſst und ab-
sichtlich entstanden. Ein solches unmerkliches gemeinsa-
mes Produciren wird dadurch möglich, daſs dabei die
mündliche Ueberlieferung das Medium der Mittheilung ist;
denn während durch die Aufzeichnung das Wachsthum
der Sage sistirt, oder doch nachweisbar gemacht wird, wie
viel jedem folgenden Schreiber Antheil an den Zuthaten
gebühre: so kommt bei mündlicher Ueberlieferung die Sa-
che so zu stehen, daſs das Ueberlieferte im zweiten Munde
vielleicht nur um Weniges anders sich gestaltet als im er-
sten, im dritten ebenfalls nur Weniges hinzukommt im
Verhältniſs zum zweiten, auch im vierten dem dritten ge-
genüber nichts Wesentliches geändert wird: und doch kann
im dritten und vierten Munde der Gegenstand ein ganz an-
drer geworden sein, als er im ersten war, ohne daſs ir-
gend ein einzelner Erzähler diese Änderung auf bewuſste
Weise vorgenommen hätte, sondern sie kommt auf Rech-
nung aller zusammen, und entzieht sich eben um dieser
Allmählichkeit willen dem Bewuſstsein, wie dieſs schnee-
ballartige Anwachsen der Tradition schon von Lessing in
Bezug auf die evangelische Geschichte bemerkt worden
ist 32).
Nimmt man dieſs Alles zusammen, so wird der An-
nahme von Mythen in allen Theilen der evangelischen Ge-
schichte wenig mehr im Wege stehen. Die Benennung,
32) Neue Hypothese über die Evangelisten, §. 5. Anmerkung.
Lessing's Werke, Berlin bei Voss, 6ter Bd. S. 229.
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