legt betrachten. Übrigens hat gegen das zuletzt angeführte Argument Schneckenburger mit Recht erinnert, dass es auch im Kreise des Mythischen ein Mehr oder Minder ge- be 14), was näher dahin zu bestimmen ist, dass die My- thenproduktion überall zwei Perioden, eine primäre und eine secundäre hat, und dass die gesunden Produkte der ersten immer, wie unsre kanonischen Evangelien, durch edle Simplicität, die krankhaften Erzeugnisse der zweiten aber durch Unnatur und Übertreibung, wie die N. T.li- chen Apokryphen, sich bemerkbar machen. Verdienter- massen hat daher schon Schelling über diejenigen, wel- che, um den mythischen Charakter einer alten Sage zu be- streiten, mit grossem Triumph ausrufen: es ist doch gar keine Kunst in ihr bemerkbar, sie ist viel zu einfältig, sie macht zu wenig Jagd auf das Wunderbare, als dass man sie einen Mythus nennen könnte, -- das procul este profani! ausgesprochen 15).
Was einer der neuesten Bestreiter der mythischen Aus- legung, Heydenreich, insbesondere gegen die Wunderscheue, als die Hauptquelle, wie der alten natürlichen, so der neuen mythischen Ansicht vorbringt 16), ist theils gar zu obso- let, theils für seine eigne supranaturalistische Ansicht ge- fährlich. Einer verschollenen Weltansicht gehört es an, wenn er sagt, obgleich Gott für gewöhnlich nur mittelbar auf die Welt einwirke, so werde doch hiedurch nicht aus- geschlossen, dass er nicht bisweilen ausnahmsweise auch unmittelbar auf dieselbe sollte wirken können, sobald er es zur Erreichung eines besondern Zweckes nöthig finde, und wenn sofort an den einzelnen göttlichen Eigenschaften der Reihe nach gezeigt wird, wie ihnen ein solches Ein- wirken nicht widerspreche, und an den einzelnen Wun-
14) Über den Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums S. 72.
15) In der §. 8. Anm. 2. angeführten Abhandlung, am Schlusse.
16) a. a. O. S. 46 ff. 61 ff.
Einleitung. §. 12.
legt betrachten. Übrigens hat gegen das zuletzt angeführte Argument Schneckenburger mit Recht erinnert, daſs es auch im Kreise des Mythischen ein Mehr oder Minder ge- be 14), was näher dahin zu bestimmen ist, daſs die My- thenproduktion überall zwei Perioden, eine primäre und eine secundäre hat, und daſs die gesunden Produkte der ersten immer, wie unsre kanonischen Evangelien, durch edle Simplicität, die krankhaften Erzeugnisse der zweiten aber durch Unnatur und Übertreibung, wie die N. T.li- chen Apokryphen, sich bemerkbar machen. Verdienter- maſsen hat daher schon Schelling über diejenigen, wel- che, um den mythischen Charakter einer alten Sage zu be- streiten, mit groſsem Triumph ausrufen: es ist doch gar keine Kunst in ihr bemerkbar, sie ist viel zu einfältig, sie macht zu wenig Jagd auf das Wunderbare, als daſs man sie einen Mythus nennen könnte, — das procul este profani! ausgesprochen 15).
Was einer der neuesten Bestreiter der mythischen Aus- legung, Heydenreich, insbesondere gegen die Wunderscheue, als die Hauptquelle, wie der alten natürlichen, so der neuen mythischen Ansicht vorbringt 16), ist theils gar zu obso- let, theils für seine eigne supranaturalistische Ansicht ge- fährlich. Einer verschollenen Weltansicht gehört es an, wenn er sagt, obgleich Gott für gewöhnlich nur mittelbar auf die Welt einwirke, so werde doch hiedurch nicht aus- geschlossen, daſs er nicht bisweilen ausnahmsweise auch unmittelbar auf dieselbe sollte wirken können, sobald er es zur Erreichung eines besondern Zweckes nöthig finde, und wenn sofort an den einzelnen göttlichen Eigenschaften der Reihe nach gezeigt wird, wie ihnen ein solches Ein- wirken nicht widerspreche, und an den einzelnen Wun-
14) Über den Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums S. 72.
15) In der §. 8. Anm. 2. angeführten Abhandlung, am Schlusse.
16) a. a. O. S. 46 ff. 61 ff.
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Einleitung. §. 12.
legt betrachten. Übrigens hat gegen das zuletzt angeführte
Argument Schneckenburger mit Recht erinnert, daſs es
auch im Kreise des Mythischen ein Mehr oder Minder ge-
be 14), was näher dahin zu bestimmen ist, daſs die My-
thenproduktion überall zwei Perioden, eine primäre und
eine secundäre hat, und daſs die gesunden Produkte der
ersten immer, wie unsre kanonischen Evangelien, durch
edle Simplicität, die krankhaften Erzeugnisse der zweiten
aber durch Unnatur und Übertreibung, wie die N. T.li-
chen Apokryphen, sich bemerkbar machen. Verdienter-
maſsen hat daher schon Schelling über diejenigen, wel-
che, um den mythischen Charakter einer alten Sage zu be-
streiten, mit groſsem Triumph ausrufen: es ist doch gar
keine Kunst in ihr bemerkbar, sie ist viel zu einfältig,
sie macht zu wenig Jagd auf das Wunderbare, als daſs
man sie einen Mythus nennen könnte, — das procul este
profani! ausgesprochen 15).
Was einer der neuesten Bestreiter der mythischen Aus-
legung, Heydenreich, insbesondere gegen die Wunderscheue,
als die Hauptquelle, wie der alten natürlichen, so der neuen
mythischen Ansicht vorbringt 16), ist theils gar zu obso-
let, theils für seine eigne supranaturalistische Ansicht ge-
fährlich. Einer verschollenen Weltansicht gehört es an,
wenn er sagt, obgleich Gott für gewöhnlich nur mittelbar
auf die Welt einwirke, so werde doch hiedurch nicht aus-
geschlossen, daſs er nicht bisweilen ausnahmsweise auch
unmittelbar auf dieselbe sollte wirken können, sobald er
es zur Erreichung eines besondern Zweckes nöthig finde,
und wenn sofort an den einzelnen göttlichen Eigenschaften
der Reihe nach gezeigt wird, wie ihnen ein solches Ein-
wirken nicht widerspreche, und an den einzelnen Wun-
14) Über den Ursprung des ersten kanonischen Evangeliums S. 72.
15) In der §. 8. Anm. 2. angeführten Abhandlung, am Schlusse.
16) a. a. O. S. 46 ff. 61 ff.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/85>, abgerufen am 24.11.2024.
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