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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Einleitung. §. 12.
sollen, da doch Niemand mythische Dichtungen mit einem
solchen Vorwort beginnen würde. Diese ganze Argumen-
tation fällt durch die einfache Unterscheidung, dass Lukas
zwar allerdings so nicht sprechen konnte, wenn er das
von ihm zu Erzählende selbst als Mythen erkannte, gar
wohl aber, wenn er davon nichts ahnte, was nach dem
Geiste seiner Zeit zum Voraus wahrscheinlich ist. Eben-
damit fällt das Andere, was Dr. Paulus hinzusezt, es sei
nicht begreiflich, wie es dem Pauliner Lukas möglich ge-
wesen wäre, Mythisches in sein Evangelium aufzunehmen,
da gerade sein Lehrer Paulus so oft und stark gegen ju-
daisirende Mythen eifere (1. Tim. 1, 4. 4, 7. Tit. 1, 14.).
Zugegeben auch die paulinische Authentie der citirten Brie-
fe, und das enge Verhältniss des Verfassers des dritten
Evangeliums zum Apostel Paulus, so waren einmal die in
jenen Briefen bekämpften Mythen offenbar andrer Art,
nämlich unerbauliche Ausgeburten einer jüdischen oder
christlichen Gnosis, wogegen das, was in dem Evangelium
als my[stis]ch in Anspruch genommen wird, auf die erbau-
lichste Weise christlichen, wenn auch judaisirenden, Ideen
dient; dann aber konnte den Lukas die paulinische Abnei-
gung gegen Mythen nicht von der Aufnahme solcher Er-
zählungen abhalten, welche er selbst nicht als Mythen er-
kannte. Aber freilich, Dr. Paulus kennt in Bezug auf
das N. T. nur eine absichtliche Einkleidung in Mythen,
um welche also auch Lukas bei der Aufnahme mythischer
Stücke in sein Evangelium gewusst haben müsste, und stüzt so
eine irrige Voraussetzung durch eine andre noch verkehrtere.

Das Wort Mythus, erklärt er in dieser Beziehung 8),
sollte schon desswegen auf die evangelische Geschichte nicht
angewendet werden, weil man es bei dieser Anwendung
in einem ganz andern Sinn nehmen müsse, als die Wort-
bedeutung und der ursprüngliche Gebrauch mit sich brin-

8) a. a. O. S. 2 ff.

Einleitung. §. 12.
sollen, da doch Niemand mythische Dichtungen mit einem
solchen Vorwort beginnen würde. Diese ganze Argumen-
tation fällt durch die einfache Unterscheidung, daſs Lukas
zwar allerdings so nicht sprechen konnte, wenn er das
von ihm zu Erzählende selbst als Mythen erkannte, gar
wohl aber, wenn er davon nichts ahnte, was nach dem
Geiste seiner Zeit zum Voraus wahrscheinlich ist. Eben-
damit fällt das Andere, was Dr. Paulus hinzusezt, es sei
nicht begreiflich, wie es dem Pauliner Lukas möglich ge-
wesen wäre, Mythisches in sein Evangelium aufzunehmen,
da gerade sein Lehrer Paulus so oft und stark gegen ju-
daisirende Mythen eifere (1. Tim. 1, 4. 4, 7. Tit. 1, 14.).
Zugegeben auch die paulinische Authentie der citirten Brie-
fe, und das enge Verhältniſs des Verfassers des dritten
Evangeliums zum Apostel Paulus, so waren einmal die in
jenen Briefen bekämpften Mythen offenbar andrer Art,
nämlich unerbauliche Ausgeburten einer jüdischen oder
christlichen Gnosis, wogegen das, was in dem Evangelium
als my[stis]ch in Anspruch genommen wird, auf die erbau-
lichste Weise christlichen, wenn auch judaisirenden, Ideen
dient; dann aber konnte den Lukas die paulinische Abnei-
gung gegen Mythen nicht von der Aufnahme solcher Er-
zählungen abhalten, welche er selbst nicht als Mythen er-
kannte. Aber freilich, Dr. Paulus kennt in Bezug auf
das N. T. nur eine absichtliche Einkleidung in Mythen,
um welche also auch Lukas bei der Aufnahme mythischer
Stücke in sein Evangelium gewuſst haben müſste, und stüzt so
eine irrige Voraussetzung durch eine andre noch verkehrtere.

Das Wort Mythus, erklärt er in dieser Beziehung 8),
sollte schon deſswegen auf die evangelische Geschichte nicht
angewendet werden, weil man es bei dieser Anwendung
in einem ganz andern Sinn nehmen müsse, als die Wort-
bedeutung und der ursprüngliche Gebrauch mit sich brin-

8) a. a. O. S. 2 ff.
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[57/0081] Einleitung. §. 12. sollen, da doch Niemand mythische Dichtungen mit einem solchen Vorwort beginnen würde. Diese ganze Argumen- tation fällt durch die einfache Unterscheidung, daſs Lukas zwar allerdings so nicht sprechen konnte, wenn er das von ihm zu Erzählende selbst als Mythen erkannte, gar wohl aber, wenn er davon nichts ahnte, was nach dem Geiste seiner Zeit zum Voraus wahrscheinlich ist. Eben- damit fällt das Andere, was Dr. Paulus hinzusezt, es sei nicht begreiflich, wie es dem Pauliner Lukas möglich ge- wesen wäre, Mythisches in sein Evangelium aufzunehmen, da gerade sein Lehrer Paulus so oft und stark gegen ju- daisirende Mythen eifere (1. Tim. 1, 4. 4, 7. Tit. 1, 14.). Zugegeben auch die paulinische Authentie der citirten Brie- fe, und das enge Verhältniſs des Verfassers des dritten Evangeliums zum Apostel Paulus, so waren einmal die in jenen Briefen bekämpften Mythen offenbar andrer Art, nämlich unerbauliche Ausgeburten einer jüdischen oder christlichen Gnosis, wogegen das, was in dem Evangelium als mystisch in Anspruch genommen wird, auf die erbau- lichste Weise christlichen, wenn auch judaisirenden, Ideen dient; dann aber konnte den Lukas die paulinische Abnei- gung gegen Mythen nicht von der Aufnahme solcher Er- zählungen abhalten, welche er selbst nicht als Mythen er- kannte. Aber freilich, Dr. Paulus kennt in Bezug auf das N. T. nur eine absichtliche Einkleidung in Mythen, um welche also auch Lukas bei der Aufnahme mythischer Stücke in sein Evangelium gewuſst haben müſste, und stüzt so eine irrige Voraussetzung durch eine andre noch verkehrtere. Das Wort Mythus, erklärt er in dieser Beziehung 8), sollte schon deſswegen auf die evangelische Geschichte nicht angewendet werden, weil man es bei dieser Anwendung in einem ganz andern Sinn nehmen müsse, als die Wort- bedeutung und der ursprüngliche Gebrauch mit sich brin- 8) a. a. O. S. 2 ff.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/81>, abgerufen am 22.11.2024.