Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung. §. 12.
sich nur etwa die historisch-mythische Erklärungsweise ab,
aber eben sofern sie keine ächt-mythische, sondern mit der
natürlichen identisch ist). Namentlich eine Erklärung der
Wunder, meint Greiling, dürfe das Faktum selbst nicht
verändern und durch die Auslegung taschenspielerisch ein
andres unterschieben (was nur die natürliche Erklärung
thut), sonst würde ja das dem Verstand anstössige Objekt
nicht erklärt, sondern das vorausgesezte Faktum geleug-
net, womit die Aufgabe nicht gelöst wäre (es ist falsch,
zu behaupten, dass ein Faktum zur Erklärung vorliege;
was unmittelbar vorliegt, ist nur ein Bericht, von welchem
erst ausgemacht werden muss, ob ihm ein Faktum zum
Grunde liegt, oder nicht). Statt dessen müssen nach dem
angeführten Gelehrten namentlich die von Jesu verrichte-
ten Wunder natürlich, näher psychologisch, erklärt wer-
den, wobei man dann am wenigsten Ursache habe, die er-
zählten Thatsachen zu verändern, zu beschneiden, mit
Dichtungen so lange zu versetzen, bis sie selbst zur Dich-
tung werden (mit welchem Rechte diess der natürlichen
Erklärungsweise nachgerühmt wird, geht schon aus dem
Bisherigen hervor) 7).

Ueberhaupt, durchgeht man die Gründe, mit welchen
von den bezeichneten beiden Seiten die mythische Erklä-
rungsweise bekämpft worden ist: so findet man zum grö-
sseren Theile nur Missverständnisse und Cirkel im Beweise.
Was soll man z. B. sagen, wenn Paulus die Einleitung zu
seinem exegetischen Handbuch mit einer Freude darüber
eröffnet, dass das Lukas-Evangelium in seinem Prologe
uns recht angelegentlich von der Glaubwürdigkeit der ge-
sammelten Thatsachen, und von der prüfenden Sorgfalt
des Sammlers versichere; wenn er zuversichtlich fragt, was
dadurch entschiedener werde, als dass wir in diesem Evan-
gelium keine Mythen, sondern reine Thatsachen bekommen

7) Greiling in Henke's Museum 1, 4, S. 621 ff.

Einleitung. §. 12.
sich nur etwa die historisch-mythische Erklärungsweise ab,
aber eben sofern sie keine ächt-mythische, sondern mit der
natürlichen identisch ist). Namentlich eine Erklärung der
Wunder, meint Greiling, dürfe das Faktum selbst nicht
verändern und durch die Auslegung taschenspielerisch ein
andres unterschieben (was nur die natürliche Erklärung
thut), sonst würde ja das dem Verstand anstöſsige Objekt
nicht erklärt, sondern das vorausgesezte Faktum geleug-
net, womit die Aufgabe nicht gelöst wäre (es ist falsch,
zu behaupten, daſs ein Faktum zur Erklärung vorliege;
was unmittelbar vorliegt, ist nur ein Bericht, von welchem
erst ausgemacht werden muſs, ob ihm ein Faktum zum
Grunde liegt, oder nicht). Statt dessen müssen nach dem
angeführten Gelehrten namentlich die von Jesu verrichte-
ten Wunder natürlich, näher psychologisch, erklärt wer-
den, wobei man dann am wenigsten Ursache habe, die er-
zählten Thatsachen zu verändern, zu beschneiden, mit
Dichtungen so lange zu versetzen, bis sie selbst zur Dich-
tung werden (mit welchem Rechte dieſs der natürlichen
Erklärungsweise nachgerühmt wird, geht schon aus dem
Bisherigen hervor) 7).

Ueberhaupt, durchgeht man die Gründe, mit welchen
von den bezeichneten beiden Seiten die mythische Erklä-
rungsweise bekämpft worden ist: so findet man zum grö-
ſseren Theile nur Miſsverständnisse und Cirkel im Beweise.
Was soll man z. B. sagen, wenn Paulus die Einleitung zu
seinem exegetischen Handbuch mit einer Freude darüber
eröffnet, daſs das Lukas-Evangelium in seinem Prologe
uns recht angelegentlich von der Glaubwürdigkeit der ge-
sammelten Thatsachen, und von der prüfenden Sorgfalt
des Sammlers versichere; wenn er zuversichtlich fragt, was
dadurch entschiedener werde, als daſs wir in diesem Evan-
gelium keine Mythen, sondern reine Thatsachen bekommen

7) Greiling in Henke's Museum 1, 4, S. 621 ff.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0080" n="56"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>. §. 12.</fw><lb/>
sich nur etwa die historisch-mythische Erklärungsweise ab,<lb/>
aber eben sofern sie keine ächt-mythische, sondern mit der<lb/>
natürlichen identisch ist). Namentlich eine Erklärung der<lb/>
Wunder, meint <hi rendition="#k">Greiling</hi>, dürfe das Faktum selbst nicht<lb/>
verändern und durch die Auslegung taschenspielerisch ein<lb/>
andres unterschieben (was nur die natürliche Erklärung<lb/>
thut), sonst würde ja das dem Verstand anstö&#x017F;sige Objekt<lb/>
nicht erklärt, sondern das vorausgesezte Faktum geleug-<lb/>
net, womit die Aufgabe nicht gelöst wäre (es ist falsch,<lb/>
zu behaupten, da&#x017F;s ein Faktum zur Erklärung vorliege;<lb/>
was unmittelbar vorliegt, ist nur ein Bericht, von welchem<lb/>
erst ausgemacht werden mu&#x017F;s, ob ihm ein Faktum zum<lb/>
Grunde liegt, oder nicht). Statt dessen müssen nach dem<lb/>
angeführten Gelehrten namentlich die von Jesu verrichte-<lb/>
ten Wunder natürlich, näher psychologisch, erklärt wer-<lb/>
den, wobei man dann am wenigsten Ursache habe, die er-<lb/>
zählten Thatsachen zu verändern, zu beschneiden, mit<lb/>
Dichtungen so lange zu versetzen, bis sie selbst zur Dich-<lb/>
tung werden (mit welchem Rechte die&#x017F;s der natürlichen<lb/>
Erklärungsweise nachgerühmt wird, geht schon aus dem<lb/>
Bisherigen hervor) <note place="foot" n="7)"><hi rendition="#k">Greiling</hi> in <hi rendition="#k">Henke</hi>'s Museum 1, 4, S. 621 ff.</note>.</p><lb/>
          <p>Ueberhaupt, durchgeht man die Gründe, mit welchen<lb/>
von den bezeichneten beiden Seiten die mythische Erklä-<lb/>
rungsweise bekämpft worden ist: so findet man zum grö-<lb/>
&#x017F;seren Theile nur Mi&#x017F;sverständnisse und Cirkel im Beweise.<lb/>
Was soll man z. B. sagen, wenn <hi rendition="#k">Paulus</hi> die Einleitung zu<lb/>
seinem exegetischen Handbuch mit einer Freude darüber<lb/>
eröffnet, da&#x017F;s das Lukas-Evangelium in seinem Prologe<lb/>
uns recht angelegentlich von der Glaubwürdigkeit der ge-<lb/>
sammelten Thatsachen, und von der prüfenden Sorgfalt<lb/>
des Sammlers versichere; wenn er zuversichtlich fragt, was<lb/>
dadurch entschiedener werde, als da&#x017F;s wir in diesem Evan-<lb/>
gelium keine Mythen, sondern reine Thatsachen bekommen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[56/0080] Einleitung. §. 12. sich nur etwa die historisch-mythische Erklärungsweise ab, aber eben sofern sie keine ächt-mythische, sondern mit der natürlichen identisch ist). Namentlich eine Erklärung der Wunder, meint Greiling, dürfe das Faktum selbst nicht verändern und durch die Auslegung taschenspielerisch ein andres unterschieben (was nur die natürliche Erklärung thut), sonst würde ja das dem Verstand anstöſsige Objekt nicht erklärt, sondern das vorausgesezte Faktum geleug- net, womit die Aufgabe nicht gelöst wäre (es ist falsch, zu behaupten, daſs ein Faktum zur Erklärung vorliege; was unmittelbar vorliegt, ist nur ein Bericht, von welchem erst ausgemacht werden muſs, ob ihm ein Faktum zum Grunde liegt, oder nicht). Statt dessen müssen nach dem angeführten Gelehrten namentlich die von Jesu verrichte- ten Wunder natürlich, näher psychologisch, erklärt wer- den, wobei man dann am wenigsten Ursache habe, die er- zählten Thatsachen zu verändern, zu beschneiden, mit Dichtungen so lange zu versetzen, bis sie selbst zur Dich- tung werden (mit welchem Rechte dieſs der natürlichen Erklärungsweise nachgerühmt wird, geht schon aus dem Bisherigen hervor) 7). Ueberhaupt, durchgeht man die Gründe, mit welchen von den bezeichneten beiden Seiten die mythische Erklä- rungsweise bekämpft worden ist: so findet man zum grö- ſseren Theile nur Miſsverständnisse und Cirkel im Beweise. Was soll man z. B. sagen, wenn Paulus die Einleitung zu seinem exegetischen Handbuch mit einer Freude darüber eröffnet, daſs das Lukas-Evangelium in seinem Prologe uns recht angelegentlich von der Glaubwürdigkeit der ge- sammelten Thatsachen, und von der prüfenden Sorgfalt des Sammlers versichere; wenn er zuversichtlich fragt, was dadurch entschiedener werde, als daſs wir in diesem Evan- gelium keine Mythen, sondern reine Thatsachen bekommen 7) Greiling in Henke's Museum 1, 4, S. 621 ff.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/80
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/80>, abgerufen am 24.11.2024.