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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
von einer im Ehebruch ergriffenen Frau, welche die Pha-
risäer und Schriftgelehrten zu Jesu brachten, um sein
Gutachten über das gegen sie zu beobachtende Verfahren
einzuholen, worauf Jesus durch Aufregung des Gewissens
der Kläger die Frau befreite, und mit einer Ermahnung
entliess. Über die Ächtheit dieser Perikope waltet vieler
Streit, und man möchte ihre Unächtheit für erwiesen ach-
ten, wenn nicht selbst in den gründlichsten Untersuchun-
gen hierüber 1) immer die Absicht durchblickte, welche
Paulus offen gesteht, den bedenklichen Vermuthungen über
die Entstehung des vierten Evangeliums auszuweichen,
welche bei der Voraussetzung, dass die Perikope ein äch-
ter Bestandtheil desselben sei, aus den vielen Unwahrschein-
lichkeiten, die sie enthält, erwachsen. Für's erste nämlich,
wenn die Schriftgelehrten zu Jesu sagen: en to nomo Moses
emin eneteilato, tas toiautas lithoboleisthai: so ist weder
im Pentateuch diese Strafe auf den Ehebruch gesezt, son-
dern unbestimmt Todesstrafe (3 Mos. 20, 10. 5 Mos. 22,
22.), noch war diess spätere talmudische Bestimmung,
sondern nach dem Kanon: omne mortis supplicium, in
scriptura absolute positum, esse strangulationem
2),
wird im Talmud für den Ehebruch die Strafe der Erdros-
selung bestimmt 3). Ferner ist schwer einzusehen, was
das Verfängliche der Jesu vorgelegten Frage hätte sein
sollen 4); denn gaben ihm die Schriftgelehrten, wie wenn
sie ihn warnen, nicht versuchen wollten, die Verordnung
des Gesetzes an, so konnten sie nicht erwarten, dass er
anders als dem Gesetz gemäss entscheiden würde; wie
denn auch gegen seine Entscheidung bemerkt werden

1) Bei Wetstein, Paulus, Lücke z. d. St.
2) Maimonides zu Sanhedr. 7, 1.
3) Mischna, tr. Sanhedr. c. 10.
4) s. die Ausführung d[i]eses und der folgenden Punkte bei Pau-
lus
und Lücke z. d. St.

Zweiter Abschnitt.
von einer im Ehebruch ergriffenen Frau, welche die Pha-
risäer und Schriftgelehrten zu Jesu brachten, um sein
Gutachten über das gegen sie zu beobachtende Verfahren
einzuholen, worauf Jesus durch Aufregung des Gewissens
der Kläger die Frau befreite, und mit einer Ermahnung
entlieſs. Über die Ächtheit dieser Perikope waltet vieler
Streit, und man möchte ihre Unächtheit für erwiesen ach-
ten, wenn nicht selbst in den gründlichsten Untersuchun-
gen hierüber 1) immer die Absicht durchblickte, welche
Paulus offen gesteht, den bedenklichen Vermuthungen über
die Entstehung des vierten Evangeliums auszuweichen,
welche bei der Voraussetzung, daſs die Perikope ein äch-
ter Bestandtheil desselben sei, aus den vielen Unwahrschein-
lichkeiten, die sie enthält, erwachsen. Für's erste nämlich,
wenn die Schriftgelehrten zu Jesu sagen: ἐν τῷ νόμῳ Μωσῆς
ἡμῖν ἐνετείλατο, τὰς τοιαύτας λιϑοβολεῖσϑαι: so ist weder
im Pentateuch diese Strafe auf den Ehebruch gesezt, son-
dern unbestimmt Todesstrafe (3 Mos. 20, 10. 5 Mos. 22,
22.), noch war dieſs spätere talmudische Bestimmung,
sondern nach dem Kanon: omne mortis supplicium, in
scriptura absolute positum, esse strangulationem
2),
wird im Talmud für den Ehebruch die Strafe der Erdros-
selung bestimmt 3). Ferner ist schwer einzusehen, was
das Verfängliche der Jesu vorgelegten Frage hätte sein
sollen 4); denn gaben ihm die Schriftgelehrten, wie wenn
sie ihn warnen, nicht versuchen wollten, die Verordnung
des Gesetzes an, so konnten sie nicht erwarten, daſs er
anders als dem Gesetz gemäſs entscheiden würde; wie
denn auch gegen seine Entscheidung bemerkt werden

1) Bei Wetstein, Paulus, Lücke z. d. St.
2) Maimonides zu Sanhedr. 7, 1.
3) Mischna, tr. Sanhedr. c. 10.
4) s. die Ausführung d[i]eses und der folgenden Punkte bei Pau-
lus
und Lücke z. d. St.
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[724/0748] Zweiter Abschnitt. von einer im Ehebruch ergriffenen Frau, welche die Pha- risäer und Schriftgelehrten zu Jesu brachten, um sein Gutachten über das gegen sie zu beobachtende Verfahren einzuholen, worauf Jesus durch Aufregung des Gewissens der Kläger die Frau befreite, und mit einer Ermahnung entlieſs. Über die Ächtheit dieser Perikope waltet vieler Streit, und man möchte ihre Unächtheit für erwiesen ach- ten, wenn nicht selbst in den gründlichsten Untersuchun- gen hierüber 1) immer die Absicht durchblickte, welche Paulus offen gesteht, den bedenklichen Vermuthungen über die Entstehung des vierten Evangeliums auszuweichen, welche bei der Voraussetzung, daſs die Perikope ein äch- ter Bestandtheil desselben sei, aus den vielen Unwahrschein- lichkeiten, die sie enthält, erwachsen. Für's erste nämlich, wenn die Schriftgelehrten zu Jesu sagen: ἐν τῷ νόμῳ Μωσῆς ἡμῖν ἐνετείλατο, τὰς τοιαύτας λιϑοβολεῖσϑαι: so ist weder im Pentateuch diese Strafe auf den Ehebruch gesezt, son- dern unbestimmt Todesstrafe (3 Mos. 20, 10. 5 Mos. 22, 22.), noch war dieſs spätere talmudische Bestimmung, sondern nach dem Kanon: omne mortis supplicium, in scriptura absolute positum, esse strangulationem 2), wird im Talmud für den Ehebruch die Strafe der Erdros- selung bestimmt 3). Ferner ist schwer einzusehen, was das Verfängliche der Jesu vorgelegten Frage hätte sein sollen 4); denn gaben ihm die Schriftgelehrten, wie wenn sie ihn warnen, nicht versuchen wollten, die Verordnung des Gesetzes an, so konnten sie nicht erwarten, daſs er anders als dem Gesetz gemäſs entscheiden würde; wie denn auch gegen seine Entscheidung bemerkt werden 1) Bei Wetstein, Paulus, Lücke z. d. St. 2) Maimonides zu Sanhedr. 7, 1. 3) Mischna, tr. Sanhedr. c. 10. 4) s. die Ausführung dieses und der folgenden Punkte bei Pau- lus und Lücke z. d. St.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 724. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/748>, abgerufen am 24.11.2024.