Haaren seine Füsse getrocknet habe 9), nur dass bei Lu- kas, wo die Frau als Sünderin gehalten ist, noch die Be- netzung der Füsse durch ihre Thränen sammt dem Küssen derselben hinzukommt. -- Ohne Zweifel haben wir also hier nur Eine Geschichte in drei ziemlich abweichenden Formen, was schon die eigentliche Ansicht des Origenes war, und neuerlich von Schleiermacher angenommen worden ist.
Dabei sucht man dann aber möglichst wohlfeilen Kau- fes abzukommen, und die Abweichungen der verschiede- nen Evangelisten wenigstens vor dem Schein des Wider- spruchs zu bewahren. Was zuerst die Differenzen zwi- schen den beiden ersten Evangelisten und dem lezten be- trifft, so hat man vor Allem die verschiedene Zeitangabe durch die Voraussetzung auszugleichen gesucht, dass das Bethanische Mahl zwar wirklich, wie Johannes berichtet, 6 Tage vor Ostern gehalten worden sei, dass aber Mat- thäus, welchem Markus nachgeschrieben, keine dem wi- dersprechende, sondern vielmehr gar keine Zeitbestim- mung habe; denn dass er jenes Mahl erst nach dem Aus- spruch Jesu: oti meta duo emeras to paskha ginetai ein- rücke, beweise nicht, dass er dasselbe der Zeit nach später stellen wolle, vielmehr hole er hier, ehe er auf den Verrath des Judas komme, die Begebenheit nach, bei welcher dieser den schwarzen Entschluss dazu fasste, nämlich das Mahl, bei welchem ihn die Verschwendung der Maria ärgerte, und die abweisende Antwort Jesu er- bitterte 10). Allein treffend hat die neueste Kritik gezeigt, wie einestheils in der milden und ganz allgemeinen Rede Jesu nichts persönlich Erbitterndes für den Judas liegen konnte, und wie anderntheils die zwei ersten Evangelien
9)[Spaltenumbruch]
Luc. 7, 38: tous podas au- tou -- tais thrixi tes ke- phales autes exemasse. [Spaltenumbruch]
Joh. 12, 3: exemaxe tais thrixin autes tous podas autou.
10)Kuinöl, Comm. in Matth. p. 687.
Zweiter Abschnitt.
Haaren seine Füſse getrocknet habe 9), nur daſs bei Lu- kas, wo die Frau als Sünderin gehalten ist, noch die Be- netzung der Füſse durch ihre Thränen sammt dem Küssen derselben hinzukommt. — Ohne Zweifel haben wir also hier nur Eine Geschichte in drei ziemlich abweichenden Formen, was schon die eigentliche Ansicht des Origenes war, und neuerlich von Schleiermacher angenommen worden ist.
Dabei sucht man dann aber möglichst wohlfeilen Kau- fes abzukommen, und die Abweichungen der verschiede- nen Evangelisten wenigstens vor dem Schein des Wider- spruchs zu bewahren. Was zuerst die Differenzen zwi- schen den beiden ersten Evangelisten und dem lezten be- trifft, so hat man vor Allem die verschiedene Zeitangabe durch die Voraussetzung auszugleichen gesucht, daſs das Bethanische Mahl zwar wirklich, wie Johannes berichtet, 6 Tage vor Ostern gehalten worden sei, daſs aber Mat- thäus, welchem Markus nachgeschrieben, keine dem wi- dersprechende, sondern vielmehr gar keine Zeitbestim- mung habe; denn daſs er jenes Mahl erst nach dem Aus- spruch Jesu: ὅτι μετὰ δύο ἡμέρας τὸ πάσχα γίνεται ein- rücke, beweise nicht, daſs er dasselbe der Zeit nach später stellen wolle, vielmehr hole er hier, ehe er auf den Verrath des Judas komme, die Begebenheit nach, bei welcher dieser den schwarzen Entschluſs dazu faſste, nämlich das Mahl, bei welchem ihn die Verschwendung der Maria ärgerte, und die abweisende Antwort Jesu er- bitterte 10). Allein treffend hat die neueste Kritik gezeigt, wie einestheils in der milden und ganz allgemeinen Rede Jesu nichts persönlich Erbitterndes für den Judas liegen konnte, und wie anderntheils die zwei ersten Evangelien
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Zweiter Abschnitt.
Haaren seine Füſse getrocknet habe 9), nur daſs bei Lu-
kas, wo die Frau als Sünderin gehalten ist, noch die Be-
netzung der Füſse durch ihre Thränen sammt dem Küssen
derselben hinzukommt. — Ohne Zweifel haben wir also
hier nur Eine Geschichte in drei ziemlich abweichenden
Formen, was schon die eigentliche Ansicht des Origenes
war, und neuerlich von Schleiermacher angenommen
worden ist.
Dabei sucht man dann aber möglichst wohlfeilen Kau-
fes abzukommen, und die Abweichungen der verschiede-
nen Evangelisten wenigstens vor dem Schein des Wider-
spruchs zu bewahren. Was zuerst die Differenzen zwi-
schen den beiden ersten Evangelisten und dem lezten be-
trifft, so hat man vor Allem die verschiedene Zeitangabe
durch die Voraussetzung auszugleichen gesucht, daſs das
Bethanische Mahl zwar wirklich, wie Johannes berichtet,
6 Tage vor Ostern gehalten worden sei, daſs aber Mat-
thäus, welchem Markus nachgeschrieben, keine dem wi-
dersprechende, sondern vielmehr gar keine Zeitbestim-
mung habe; denn daſs er jenes Mahl erst nach dem Aus-
spruch Jesu: ὅτι μετὰ δύο ἡμέρας τὸ πάσχα γίνεται ein-
rücke, beweise nicht, daſs er dasselbe der Zeit nach
später stellen wolle, vielmehr hole er hier, ehe er auf
den Verrath des Judas komme, die Begebenheit nach, bei
welcher dieser den schwarzen Entschluſs dazu faſste,
nämlich das Mahl, bei welchem ihn die Verschwendung
der Maria ärgerte, und die abweisende Antwort Jesu er-
bitterte 10). Allein treffend hat die neueste Kritik gezeigt,
wie einestheils in der milden und ganz allgemeinen Rede
Jesu nichts persönlich Erbitterndes für den Judas liegen
konnte, und wie anderntheils die zwei ersten Evangelien
9)
Luc. 7, 38: τοὐς πόδας αὐ-
τοῦ — ταῖς ϑριξὶ τῆς κε-
φαλῆς αὑτῆς ἐξέμασσε.
Joh. 12, 3: ἐξέμαξε ταῖς
ϑριξὶν αὑτῆς τους πόδας αὐτοῦ.
10) Kuinöl, Comm. in Matth. p. 687.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 714. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/738>, abgerufen am 25.11.2024.
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