Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Achtes Kapitel. §. 84. ähnliche malerische Züge, wenn man sie bei dem viertenEvangelisten findet, als Kennzeichen seiner Autopsie zu be- trachten? Sich dabei auf seine anerkannte Augenzeugen- schaft zu berufen 7), ist doch eine gar zu grelle petitio prin- cipii, wenigstens auf dem Standpunkt einer vergleichen- den Kritik, auf welchem es lediglich nach der inneren Wahrscheinlichkeit entschieden werden muss, ob nicht auch die malerischen Züge des vierten Evangeliums blosse Aus- malung sind. Wenn hier die verschiedene Behandlung der verschiedenen Menschenklassen ein für sich wahrschein- licher, die freiere Bezugnahme auf das A. T. wenigstens ein indifferenter Zug ist: so verhält es sich mit dem auf- fallendsten Zug der johanneischen Erzählung ganz anders. An dem Flechten und Anwenden der Strickpeitsche hat schon Origenes, als an einem gar zu gewaltthätigen und ordnungswidrigen Schritte, Anstoss genommen 8), und die Milderung neuerer Erklärer, dass Jesus dieselbe nur gegen das Vieh gebraucht habe 9), ist theils gegen den Text, wel- cher mittelst des phragellion pantas austreiben lässt, theils kann auch sie nicht abhalten, das Anwenden einer Geissel überhaupt für eine Person von Jesu Würde unschicklich, und jedenfalls nur geeignet zu finden, das ohnehin Tu- multuarische der Handlung auf unwillkommene Weise zu vermehren 10). Solche Schwierigkeiten hat der dem Mar- kus eigenthümliche Zug nicht gegen sich, und doch soll er verworfen, der des Johannes aber angenommen werden. Gewiss nicht, wenn sich auch noch andeuten lässt, wie der vierte Evangelist zu freier Fiktion dieses Zuges veran- lasst sein konnte. Er fasste aber, wie das ihm eigenthüm- 7) Lücke, S. 437; Sieffert, S. 110. 8) Comm. in Joh. Tom. 10, §. 17, Opp. 1, p. 322, ed. Lom- matzsch. 9) Kuinöl, z. d. St. 10) Bretschneider, Probab., p. 43. Das Leben Jesu I. Band. 45
Achtes Kapitel. §. 84. ähnliche malerische Züge, wenn man sie bei dem viertenEvangelisten findet, als Kennzeichen seiner Autopsie zu be- trachten? Sich dabei auf seine anerkannte Augenzeugen- schaft zu berufen 7), ist doch eine gar zu grelle petitio prin- cipii, wenigstens auf dem Standpunkt einer vergleichen- den Kritik, auf welchem es lediglich nach der inneren Wahrscheinlichkeit entschieden werden muſs, ob nicht auch die malerischen Züge des vierten Evangeliums bloſse Aus- malung sind. Wenn hier die verschiedene Behandlung der verschiedenen Menschenklassen ein für sich wahrschein- licher, die freiere Bezugnahme auf das A. T. wenigstens ein indifferenter Zug ist: so verhält es sich mit dem auf- fallendsten Zug der johanneischen Erzählung ganz anders. An dem Flechten und Anwenden der Strickpeitsche hat schon Origenes, als an einem gar zu gewaltthätigen und ordnungswidrigen Schritte, Anstoſs genommen 8), und die Milderung neuerer Erklärer, daſs Jesus dieselbe nur gegen das Vieh gebraucht habe 9), ist theils gegen den Text, wel- cher mittelst des φραγέλλιον πάντας austreiben läſst, theils kann auch sie nicht abhalten, das Anwenden einer Geiſsel überhaupt für eine Person von Jesu Würde unschicklich, und jedenfalls nur geeignet zu finden, das ohnehin Tu- multuarische der Handlung auf unwillkommene Weise zu vermehren 10). Solche Schwierigkeiten hat der dem Mar- kus eigenthümliche Zug nicht gegen sich, und doch soll er verworfen, der des Johannes aber angenommen werden. Gewiſs nicht, wenn sich auch noch andeuten läſst, wie der vierte Evangelist zu freier Fiktion dieses Zuges veran- laſst sein konnte. Er faſste aber, wie das ihm eigenthüm- 7) Lücke, S. 437; Sieffert, S. 110. 8) Comm. in Joh. Tom. 10, §. 17, Opp. 1, p. 322, ed. Lom- matzsch. 9) Kuinöl, z. d. St. 10) Bretschneider, Probab., p. 43. Das Leben Jesu I. Band. 45
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Achtes Kapitel. §. 84.
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Evangelisten findet, als Kennzeichen seiner Autopsie zu be-
trachten? Sich dabei auf seine anerkannte Augenzeugen-
schaft zu berufen 7), ist doch eine gar zu grelle petitio prin-
cipii, wenigstens auf dem Standpunkt einer vergleichen-
den Kritik, auf welchem es lediglich nach der inneren
Wahrscheinlichkeit entschieden werden muſs, ob nicht auch
die malerischen Züge des vierten Evangeliums bloſse Aus-
malung sind. Wenn hier die verschiedene Behandlung
der verschiedenen Menschenklassen ein für sich wahrschein-
licher, die freiere Bezugnahme auf das A. T. wenigstens
ein indifferenter Zug ist: so verhält es sich mit dem auf-
fallendsten Zug der johanneischen Erzählung ganz anders.
An dem Flechten und Anwenden der Strickpeitsche hat
schon Origenes, als an einem gar zu gewaltthätigen und
ordnungswidrigen Schritte, Anstoſs genommen 8), und die
Milderung neuerer Erklärer, daſs Jesus dieselbe nur gegen
das Vieh gebraucht habe 9), ist theils gegen den Text, wel-
cher mittelst des φραγέλλιον πάντας austreiben läſst, theils
kann auch sie nicht abhalten, das Anwenden einer Geiſsel
überhaupt für eine Person von Jesu Würde unschicklich,
und jedenfalls nur geeignet zu finden, das ohnehin Tu-
multuarische der Handlung auf unwillkommene Weise zu
vermehren 10). Solche Schwierigkeiten hat der dem Mar-
kus eigenthümliche Zug nicht gegen sich, und doch soll er
verworfen, der des Johannes aber angenommen werden.
Gewiſs nicht, wenn sich auch noch andeuten läſst, wie
der vierte Evangelist zu freier Fiktion dieses Zuges veran-
laſst sein konnte. Er faſste aber, wie das ihm eigenthüm-
7) Lücke, S. 437; Sieffert, S. 110.
8) Comm. in Joh. Tom. 10, §. 17, Opp. 1, p. 322, ed. Lom-
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