frühere Zeit setzen zu müssen glaubte. Wissen so sämmt- liche Evangelisten nur je von Einem Vorfall dieser Art: so berechtigen uns weder die kleinen Abweichungen in der Beschreibung, noch die bedeutende in der Stellung der Begebenheit, zwei verschiedene Vorfälle vorauszuse- zen, da ja namentlich chronologische Differenzen in den Evangelien keineswegs selten, und bei traditionell entstan- denen Schriften auch ganz natürlich sind. Mit Recht hat daher nach älteren Vorgängen der neueste Ausleger des Johannes sich für die Identität beider Geschichten erklärt 3).
Auf welcher Seite hiebei der Irrthum, namentlich in chronologischer Beziehung, liege, darüber kann man im Voraus wissen, wie sich die jetzige Kritik entscheiden wird, nämlich zu Gunsten des vierten Evangeliums. Die Peitsche, die abgestufte Behandlung der verschiedenen Klassen von Händlern, die freiere Anspielung auf die A. T.liche Stelle, sind nach Lücke ebensoviele Kennzei- chen des Augen- und Ohrenzeugen; in Bezug auf die Chronologie sei ohnehin anerkannt, dass die Synoptiker sie gar nicht beobachten, sondern nur Johannes, wesswe- gen es, nach Sieffert4), das Gewisse gegen das Unge- wisse aufgeben hiesse, wenn man die johanneische Erzäh- lung der synoptischen gegenüber fallen lassen wollte. Allein, was jene Anschaulichkeit betrifft, so hat auch Mar- kus in seinem kai ouk ephien, ina tis dienegke skeuos dia tou ierou (V. 16.) einen solchen Zug vor den übrigen voraus, der sich überdiess einer Stütze in der jüdischen Sitte er- freut, welche nicht erlaubte, den Tempelvorhof zum Durch- weg zu machen 5). Sezt man dennoch von diesem Zuge voraus, dass er zu der willkührlichen Ausmalung gehöre, wie sie Markus auch sonst liebt 6): was berechtigt dann,
3)Lücke, 1, S. 435 ff.
4) a. a. O. S. 109; vgl. Schnechenburger, S. 26 f.
5)Lightfoot, S. 632, aus Bab. Jevamoth, f. 6, 2.
6)Lücke, S. 438.
Zweiter Abschnitt.
frühere Zeit setzen zu müssen glaubte. Wissen so sämmt- liche Evangelisten nur je von Einem Vorfall dieser Art: so berechtigen uns weder die kleinen Abweichungen in der Beschreibung, noch die bedeutende in der Stellung der Begebenheit, zwei verschiedene Vorfälle vorauszuse- zen, da ja namentlich chronologische Differenzen in den Evangelien keineswegs selten, und bei traditionell entstan- denen Schriften auch ganz natürlich sind. Mit Recht hat daher nach älteren Vorgängen der neueste Ausleger des Johannes sich für die Identität beider Geschichten erklärt 3).
Auf welcher Seite hiebei der Irrthum, namentlich in chronologischer Beziehung, liege, darüber kann man im Voraus wissen, wie sich die jetzige Kritik entscheiden wird, nämlich zu Gunsten des vierten Evangeliums. Die Peitsche, die abgestufte Behandlung der verschiedenen Klassen von Händlern, die freiere Anspielung auf die A. T.liche Stelle, sind nach Lücke ebensoviele Kennzei- chen des Augen- und Ohrenzeugen; in Bezug auf die Chronologie sei ohnehin anerkannt, daſs die Synoptiker sie gar nicht beobachten, sondern nur Johannes, weſswe- gen es, nach Sieffert4), das Gewisse gegen das Unge- wisse aufgeben hieſse, wenn man die johanneische Erzäh- lung der synoptischen gegenüber fallen lassen wollte. Allein, was jene Anschaulichkeit betrifft, so hat auch Mar- kus in seinem καὶ οὐκ ἤφιεν, ϊνα τις διενέγκῃ σκεῦος διὰ τοῦ ἱεροῦ (V. 16.) einen solchen Zug vor den übrigen voraus, der sich überdieſs einer Stütze in der jüdischen Sitte er- freut, welche nicht erlaubte, den Tempelvorhof zum Durch- weg zu machen 5). Sezt man dennoch von diesem Zuge voraus, daſs er zu der willkührlichen Ausmalung gehöre, wie sie Markus auch sonst liebt 6): was berechtigt dann,
3)Lücke, 1, S. 435 ff.
4) a. a. O. S. 109; vgl. Schnechenburger, S. 26 f.
5)Lightfoot, S. 632, aus Bab. Jevamoth, f. 6, 2.
6)Lücke, S. 438.
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Zweiter Abschnitt.
frühere Zeit setzen zu müssen glaubte. Wissen so sämmt-
liche Evangelisten nur je von Einem Vorfall dieser Art:
so berechtigen uns weder die kleinen Abweichungen in
der Beschreibung, noch die bedeutende in der Stellung
der Begebenheit, zwei verschiedene Vorfälle vorauszuse-
zen, da ja namentlich chronologische Differenzen in den
Evangelien keineswegs selten, und bei traditionell entstan-
denen Schriften auch ganz natürlich sind. Mit Recht hat
daher nach älteren Vorgängen der neueste Ausleger des
Johannes sich für die Identität beider Geschichten erklärt 3).
Auf welcher Seite hiebei der Irrthum, namentlich in
chronologischer Beziehung, liege, darüber kann man im
Voraus wissen, wie sich die jetzige Kritik entscheiden
wird, nämlich zu Gunsten des vierten Evangeliums. Die
Peitsche, die abgestufte Behandlung der verschiedenen
Klassen von Händlern, die freiere Anspielung auf die
A. T.liche Stelle, sind nach Lücke ebensoviele Kennzei-
chen des Augen- und Ohrenzeugen; in Bezug auf die
Chronologie sei ohnehin anerkannt, daſs die Synoptiker
sie gar nicht beobachten, sondern nur Johannes, weſswe-
gen es, nach Sieffert 4), das Gewisse gegen das Unge-
wisse aufgeben hieſse, wenn man die johanneische Erzäh-
lung der synoptischen gegenüber fallen lassen wollte.
Allein, was jene Anschaulichkeit betrifft, so hat auch Mar-
kus in seinem καὶ οὐκ ἤφιεν, ϊνα τις διενέγκῃ σκεῦος διὰ τοῦ
ἱεροῦ (V. 16.) einen solchen Zug vor den übrigen voraus,
der sich überdieſs einer Stütze in der jüdischen Sitte er-
freut, welche nicht erlaubte, den Tempelvorhof zum Durch-
weg zu machen 5). Sezt man dennoch von diesem Zuge
voraus, daſs er zu der willkührlichen Ausmalung gehöre,
wie sie Markus auch sonst liebt 6): was berechtigt dann,
3) Lücke, 1, S. 435 ff.
4) a. a. O. S. 109; vgl. Schnechenburger, S. 26 f.
5) Lightfoot, S. 632, aus Bab. Jevamoth, f. 6, 2.
6) Lücke, S. 438.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 704. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/728>, abgerufen am 26.11.2024.
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