Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Achtes Kapitel. §. 80.
schritten sei (8, 59. 10, 39. vgl. hiezu Luc. 4, 30.). Ge-
wiss ist, wie schon oben bemerkt, hier nicht an ein na-
türliches, sondern nur an ein solches Entkommen zu den-
ken, worin Jesu höhere Natur, seine Unverlezlichkeit, so
lange er nicht selbst sein Leben lassen wollte, sich be-
währte. Diess giebt aber zugleich Licht über den Zweck,
welchen der vierte Evangelist bei der besondern Hervor-
hebung dieser Züge hat: sie helfen ihm nämlich die Zahl je-
ner Contraste vermehren, mittelst welcher er in seiner gan-
zen Schrift die Person und Würde Jesu zu heben sucht.
Wie im Gegensaz gegen den rohen Unverstand der Juden
Jesu tiefe Weisheit als des göttlichen logos nur um so glän-
zender leuchtete: so erschien seine Güte der verstockten
Bosheit seiner Feinde gegenüber in um so rührenderem
Lichte; das Bedeutende seiner Erscheinung hob sich, je
mehr Streit unter dem Volke über ihn war, und seine Macht,
als dessen, der das Leben in ihm selber hatte, trat um so
ehrfurchtgebietender hervor, je öfter seine Feinde und de-
ren Werkzeuge ausgiengen, ihn zu greifen, aber wie durch
eine höhere Macht gebunden, keine Hand an ihn zu legen
vermochten, je unbegreiflicher er selbst durch die Reihen
der zu seinem Untergang gerüsteten Widersacher unverlezt
hindurchgieng. So sehr man also dem vierten Evangelisten
gerade auch diess nachrühmt, dass die Opposition der pha-
risäischen Partei gegen Jesum nur durch ihn in ihrer Ent-
stehung und allmähligen Steigerung anschaulich werde: so
entsteht doch eben hier gar sehr die Frage, ob dieser Prag-
matismus ein natürlicher oder ein gemachter sei? Etwas
Gemachtes ist jedenfalls daran, indem das bezeichnete Evan-
gelium den Grund, warum die Feinde Jesu so lange nichts
gegen ihn ausrichteten, auf die beschriebene Weise im Über-
natürlichen sucht, wogegen die Synoptiker mit ächtem Prag-
matismus den natürlichen Grund hervorheben, dass die jü-
dischen Hierarchen das Volk haben fürchten müssen, wel-
ches Jesu als einem Propheten angehangen habe (Matth. 21,

Achtes Kapitel. §. 80.
schritten sei (8, 59. 10, 39. vgl. hiezu Luc. 4, 30.). Ge-
wiſs ist, wie schon oben bemerkt, hier nicht an ein na-
türliches, sondern nur an ein solches Entkommen zu den-
ken, worin Jesu höhere Natur, seine Unverlezlichkeit, so
lange er nicht selbst sein Leben lassen wollte, sich be-
währte. Dieſs giebt aber zugleich Licht über den Zweck,
welchen der vierte Evangelist bei der besondern Hervor-
hebung dieser Züge hat: sie helfen ihm nämlich die Zahl je-
ner Contraste vermehren, mittelst welcher er in seiner gan-
zen Schrift die Person und Würde Jesu zu heben sucht.
Wie im Gegensaz gegen den rohen Unverstand der Juden
Jesu tiefe Weisheit als des göttlichen λόγος nur um so glän-
zender leuchtete: so erschien seine Güte der verstockten
Bosheit seiner Feinde gegenüber in um so rührenderem
Lichte; das Bedeutende seiner Erscheinung hob sich, je
mehr Streit unter dem Volke über ihn war, und seine Macht,
als dessen, der das Leben in ihm selber hatte, trat um so
ehrfurchtgebietender hervor, je öfter seine Feinde und de-
ren Werkzeuge ausgiengen, ihn zu greifen, aber wie durch
eine höhere Macht gebunden, keine Hand an ihn zu legen
vermochten, je unbegreiflicher er selbst durch die Reihen
der zu seinem Untergang gerüsteten Widersacher unverlezt
hindurchgieng. So sehr man also dem vierten Evangelisten
gerade auch dieſs nachrühmt, daſs die Opposition der pha-
risäischen Partei gegen Jesum nur durch ihn in ihrer Ent-
stehung und allmähligen Steigerung anschaulich werde: so
entsteht doch eben hier gar sehr die Frage, ob dieser Prag-
matismus ein natürlicher oder ein gemachter sei? Etwas
Gemachtes ist jedenfalls daran, indem das bezeichnete Evan-
gelium den Grund, warum die Feinde Jesu so lange nichts
gegen ihn ausrichteten, auf die beschriebene Weise im Über-
natürlichen sucht, wogegen die Synoptiker mit ächtem Prag-
matismus den natürlichen Grund hervorheben, daſs die jü-
dischen Hierarchen das Volk haben fürchten müssen, wel-
ches Jesu als einem Propheten angehangen habe (Matth. 21,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0709" n="685"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Achtes Kapitel</hi>. §. 80.</fw><lb/>
schritten sei (8, 59. 10, 39. vgl. hiezu Luc. 4, 30.). Ge-<lb/>
wi&#x017F;s ist, wie schon oben bemerkt, hier nicht an ein na-<lb/>
türliches, sondern nur an ein solches Entkommen zu den-<lb/>
ken, worin Jesu höhere Natur, seine Unverlezlichkeit, so<lb/>
lange er nicht selbst sein Leben lassen wollte, sich be-<lb/>
währte. Die&#x017F;s giebt aber zugleich Licht über den Zweck,<lb/>
welchen der vierte Evangelist bei der besondern Hervor-<lb/>
hebung dieser Züge hat: sie helfen ihm nämlich die Zahl je-<lb/>
ner Contraste vermehren, mittelst welcher er in seiner gan-<lb/>
zen Schrift die Person und Würde Jesu zu heben sucht.<lb/>
Wie im Gegensaz gegen den rohen Unverstand der Juden<lb/>
Jesu tiefe Weisheit als des göttlichen &#x03BB;&#x03CC;&#x03B3;&#x03BF;&#x03C2; nur um so glän-<lb/>
zender leuchtete: so erschien seine Güte der verstockten<lb/>
Bosheit seiner Feinde gegenüber in um so rührenderem<lb/>
Lichte; das Bedeutende seiner Erscheinung hob sich, je<lb/>
mehr Streit unter dem Volke über ihn war, und seine Macht,<lb/>
als dessen, der das Leben in ihm selber hatte, trat um so<lb/>
ehrfurchtgebietender hervor, je öfter seine Feinde und de-<lb/>
ren Werkzeuge ausgiengen, ihn zu greifen, aber wie durch<lb/>
eine höhere Macht gebunden, keine Hand an ihn zu legen<lb/>
vermochten, je unbegreiflicher er selbst durch die Reihen<lb/>
der zu seinem Untergang gerüsteten Widersacher unverlezt<lb/>
hindurchgieng. So sehr man also dem vierten Evangelisten<lb/>
gerade auch die&#x017F;s nachrühmt, da&#x017F;s die Opposition der pha-<lb/>
risäischen Partei gegen Jesum nur durch ihn in ihrer Ent-<lb/>
stehung und allmähligen Steigerung anschaulich werde: so<lb/>
entsteht doch eben hier gar sehr die Frage, ob dieser Prag-<lb/>
matismus ein natürlicher oder ein gemachter sei? Etwas<lb/>
Gemachtes ist jedenfalls daran, indem das bezeichnete Evan-<lb/>
gelium den Grund, warum die Feinde Jesu so lange nichts<lb/>
gegen ihn ausrichteten, auf die beschriebene Weise im Über-<lb/>
natürlichen sucht, wogegen die Synoptiker mit ächtem Prag-<lb/>
matismus den natürlichen Grund hervorheben, da&#x017F;s die jü-<lb/>
dischen Hierarchen das Volk haben fürchten müssen, wel-<lb/>
ches Jesu als einem Propheten angehangen habe (Matth. 21,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[685/0709] Achtes Kapitel. §. 80. schritten sei (8, 59. 10, 39. vgl. hiezu Luc. 4, 30.). Ge- wiſs ist, wie schon oben bemerkt, hier nicht an ein na- türliches, sondern nur an ein solches Entkommen zu den- ken, worin Jesu höhere Natur, seine Unverlezlichkeit, so lange er nicht selbst sein Leben lassen wollte, sich be- währte. Dieſs giebt aber zugleich Licht über den Zweck, welchen der vierte Evangelist bei der besondern Hervor- hebung dieser Züge hat: sie helfen ihm nämlich die Zahl je- ner Contraste vermehren, mittelst welcher er in seiner gan- zen Schrift die Person und Würde Jesu zu heben sucht. Wie im Gegensaz gegen den rohen Unverstand der Juden Jesu tiefe Weisheit als des göttlichen λόγος nur um so glän- zender leuchtete: so erschien seine Güte der verstockten Bosheit seiner Feinde gegenüber in um so rührenderem Lichte; das Bedeutende seiner Erscheinung hob sich, je mehr Streit unter dem Volke über ihn war, und seine Macht, als dessen, der das Leben in ihm selber hatte, trat um so ehrfurchtgebietender hervor, je öfter seine Feinde und de- ren Werkzeuge ausgiengen, ihn zu greifen, aber wie durch eine höhere Macht gebunden, keine Hand an ihn zu legen vermochten, je unbegreiflicher er selbst durch die Reihen der zu seinem Untergang gerüsteten Widersacher unverlezt hindurchgieng. So sehr man also dem vierten Evangelisten gerade auch dieſs nachrühmt, daſs die Opposition der pha- risäischen Partei gegen Jesum nur durch ihn in ihrer Ent- stehung und allmähligen Steigerung anschaulich werde: so entsteht doch eben hier gar sehr die Frage, ob dieser Prag- matismus ein natürlicher oder ein gemachter sei? Etwas Gemachtes ist jedenfalls daran, indem das bezeichnete Evan- gelium den Grund, warum die Feinde Jesu so lange nichts gegen ihn ausrichteten, auf die beschriebene Weise im Über- natürlichen sucht, wogegen die Synoptiker mit ächtem Prag- matismus den natürlichen Grund hervorheben, daſs die jü- dischen Hierarchen das Volk haben fürchten müssen, wel- ches Jesu als einem Propheten angehangen habe (Matth. 21,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/709
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 685. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/709>, abgerufen am 28.11.2024.