sich befriedigen könnte. In der mündlichen Überlieferung, bemerkt man, aus welcher die drei ersten Evangelien ge- flossen seien, habe von den Reden Jesu nur das Einfache und Gemeinverständliche, das Kurzgefasste und Schlagende, als das Behaltbarste, sich fortpflanzen können, das Tiefere aber und feiner Ausgesponnene verloren gehen müssen 17). Dass nun aber der Verfasser des vierten Evangeliums in der Nachlese, welche er nach dieser Voraussetzung an- stellte, fast alles jener praktischen Tendenz Angehörige übergeht, da doch gewiss nicht alle Reden Jesu von die- ser Art bereits durch die Synoptiker aufbehalten waren, diess lässt sich doch nur aus einer Vorliebe des Evange- listen für dergleichen Reden erklären, welche nicht allein in dem objektiven Bedürfniss seiner Zeit und Umgebung, sondern auch in der subjektiven Richtung seines eignen Geistes ihren Grund gehabt haben muss. Diess geben selbst die der Ächtheit dieses Evangeliums günstigsten Kri- tiker zu 18): nur glauben sie, jene Vorliebe habe sich bloss negativ durch Weglassen, nicht aber auch positiv durch Zusetzen geäussert.
In formeller Hinsicht ist auf die Differenz zwischen der gnomischen oder parabolischen Form der Belehrungen Jesu bei den Synoptikern und der dialektischen bei Johan- nes aufmerksam gemacht worden 19). Die Parabel nun allerdings fehlt dem oben Bemerkten zufolge im vierten Evangelium ganz, und man muss sich wundern, da doch Lukas neben Matthäus noch so manches schöne Gleichniss eigen hat, wie nicht Johannes nach beiden noch eine be- deutende Nachlese zu machen gewusst haben sollte? Dass es an einzelnen Gnomen und Sentenzen, welche den syn- optischen ähnlich sind, im vierten Evangelium nicht durch-
17)Lücke, a. a. O. S. 100. Kern, a. a. O.
18)Tholuck, S. 21.
19)Bretschneider, a. a. O.
Zweiter Abschnitt.
sich befriedigen könnte. In der mündlichen Überlieferung, bemerkt man, aus welcher die drei ersten Evangelien ge- flossen seien, habe von den Reden Jesu nur das Einfache und Gemeinverständliche, das Kurzgefaſste und Schlagende, als das Behaltbarste, sich fortpflanzen können, das Tiefere aber und feiner Ausgesponnene verloren gehen müssen 17). Daſs nun aber der Verfasser des vierten Evangeliums in der Nachlese, welche er nach dieser Voraussetzung an- stellte, fast alles jener praktischen Tendenz Angehörige übergeht, da doch gewiſs nicht alle Reden Jesu von die- ser Art bereits durch die Synoptiker aufbehalten waren, dieſs läſst sich doch nur aus einer Vorliebe des Evange- listen für dergleichen Reden erklären, welche nicht allein in dem objektiven Bedürfniſs seiner Zeit und Umgebung, sondern auch in der subjektiven Richtung seines eignen Geistes ihren Grund gehabt haben muſs. Dieſs geben selbst die der Ächtheit dieses Evangeliums günstigsten Kri- tiker zu 18): nur glauben sie, jene Vorliebe habe sich bloſs negativ durch Weglassen, nicht aber auch positiv durch Zusetzen geäussert.
In formeller Hinsicht ist auf die Differenz zwischen der gnomischen oder parabolischen Form der Belehrungen Jesu bei den Synoptikern und der dialektischen bei Johan- nes aufmerksam gemacht worden 19). Die Parabel nun allerdings fehlt dem oben Bemerkten zufolge im vierten Evangelium ganz, und man muſs sich wundern, da doch Lukas neben Matthäus noch so manches schöne Gleichniſs eigen hat, wie nicht Johannes nach beiden noch eine be- deutende Nachlese zu machen gewuſst haben sollte? Daſs es an einzelnen Gnomen und Sentenzen, welche den syn- optischen ähnlich sind, im vierten Evangelium nicht durch-
17)Lücke, a. a. O. S. 100. Kern, a. a. O.
18)Tholuck, S. 21.
19)Bretschneider, a. a. O.
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Zweiter Abschnitt.
sich befriedigen könnte. In der mündlichen Überlieferung,
bemerkt man, aus welcher die drei ersten Evangelien ge-
flossen seien, habe von den Reden Jesu nur das Einfache
und Gemeinverständliche, das Kurzgefaſste und Schlagende,
als das Behaltbarste, sich fortpflanzen können, das Tiefere
aber und feiner Ausgesponnene verloren gehen müssen 17).
Daſs nun aber der Verfasser des vierten Evangeliums in
der Nachlese, welche er nach dieser Voraussetzung an-
stellte, fast alles jener praktischen Tendenz Angehörige
übergeht, da doch gewiſs nicht alle Reden Jesu von die-
ser Art bereits durch die Synoptiker aufbehalten waren,
dieſs läſst sich doch nur aus einer Vorliebe des Evange-
listen für dergleichen Reden erklären, welche nicht allein
in dem objektiven Bedürfniſs seiner Zeit und Umgebung,
sondern auch in der subjektiven Richtung seines eignen
Geistes ihren Grund gehabt haben muſs. Dieſs geben
selbst die der Ächtheit dieses Evangeliums günstigsten Kri-
tiker zu 18): nur glauben sie, jene Vorliebe habe sich
bloſs negativ durch Weglassen, nicht aber auch positiv
durch Zusetzen geäussert.
In formeller Hinsicht ist auf die Differenz zwischen
der gnomischen oder parabolischen Form der Belehrungen
Jesu bei den Synoptikern und der dialektischen bei Johan-
nes aufmerksam gemacht worden 19). Die Parabel nun
allerdings fehlt dem oben Bemerkten zufolge im vierten
Evangelium ganz, und man muſs sich wundern, da doch
Lukas neben Matthäus noch so manches schöne Gleichniſs
eigen hat, wie nicht Johannes nach beiden noch eine be-
deutende Nachlese zu machen gewuſst haben sollte? Daſs
es an einzelnen Gnomen und Sentenzen, welche den syn-
optischen ähnlich sind, im vierten Evangelium nicht durch-
17) Lücke, a. a. O. S. 100. Kern, a. a. O.
18) Tholuck, S. 21.
19) Bretschneider, a. a. O.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 672. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/696>, abgerufen am 22.11.2024.
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