Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Siebentes Kapitel. §. 78. se Auffassung zulässig sein, so müsste unmittelbar vorherdie ganze Dauer des auswärtigen Aufenthalts Jesu zusam- mengefasst sich finden: statt dessen aber ist V. 45. nur die kurze Zeit angegeben, welche Jesus in Samarien ver- weilt hatte, so dass, in lächerlichem Missverhältniss von Grund und Folge, die Furcht vor der Verachtung seiner Landsleute als der Grund bezeichnet wäre, nicht warum er erst nach mehrmonatlichem Aufenthalt in Judäa, sondern warum er nicht eher als nach Verfluss zweier in Samaria zugebrachten Tage nach Galiläa gegangen sei. Kann so- mit, so lange man Galiläa und Nazaret als die patris Je- su sich denkt, aus unsrer Stelle das absurdum nicht ent- fernt werden, dass Jesus, bewogen durch die daselbst zu erwartende Missachtung, dahin gegangen sei: so war es dem Ausleger nahe gelegt, sich aus seinem Matthäus und Lukas zu besinnen, dass ja Jesus vielmehr in der Davids- stadt Bethlehem geboren, somit Judäa seine eigentliche Hei- math sei, welche er nun, der daselbst erfahrenen Missach- tung wegen, verlassen habe 3). Allein in Judäa hatte er ja nach 4, 1. vgl. 2, 23. 3, 26 ff. einen sehr bedeutenden Anhang gewonnen, und konnte sich also über Mangel an time nicht beklagen; denn die Nachstellungen der Phari- säer, welche 4, 1. zu verstehen gegeben sind, waren eben durch das wachsende Ansehen Jesu in Judäa veran- lasst, und ihrerseits keineswegs auf das oti prophetes k. t. l. zurückzuführen. Ferner ist in unsrer Stelle das Gehen nach Galiläa nicht mit einem Verlassen Judäas, sondern Samariens in Verbindung gesezt, so dass, da es heisst, er verliess Samarien und gieng nach Galiläa, weil er die Er- fahrung gemacht hatte, dass ein Prophet in seinem Vater- land nichts gelte, vielmehr Samarien als sein Vaterland be- 3) Dieser Gedanke ist so ganz im Geiste der alten Harmonistik, dass es mich wundert, wenn wirklich erst Lücke (Comm. 1, S. 545 f.) auf denselben verfallen ist. 42*
Siebentes Kapitel. §. 78. se Auffassung zulässig sein, so müſste unmittelbar vorherdie ganze Dauer des auswärtigen Aufenthalts Jesu zusam- mengefaſst sich finden: statt dessen aber ist V. 45. nur die kurze Zeit angegeben, welche Jesus in Samarien ver- weilt hatte, so daſs, in lächerlichem Miſsverhältniſs von Grund und Folge, die Furcht vor der Verachtung seiner Landsleute als der Grund bezeichnet wäre, nicht warum er erst nach mehrmonatlichem Aufenthalt in Judäa, sondern warum er nicht eher als nach Verfluſs zweier in Samaria zugebrachten Tage nach Galiläa gegangen sei. Kann so- mit, so lange man Galiläa und Nazaret als die πατρὶς Je- su sich denkt, aus unsrer Stelle das absurdum nicht ent- fernt werden, daſs Jesus, bewogen durch die daselbst zu erwartende Miſsachtung, dahin gegangen sei: so war es dem Ausleger nahe gelegt, sich aus seinem Matthäus und Lukas zu besinnen, daſs ja Jesus vielmehr in der Davids- stadt Bethlehem geboren, somit Judäa seine eigentliche Hei- math sei, welche er nun, der daselbst erfahrenen Miſsach- tung wegen, verlassen habe 3). Allein in Judäa hatte er ja nach 4, 1. vgl. 2, 23. 3, 26 ff. einen sehr bedeutenden Anhang gewonnen, und konnte sich also über Mangel an τιμὴ nicht beklagen; denn die Nachstellungen der Phari- säer, welche 4, 1. zu verstehen gegeben sind, waren eben durch das wachsende Ansehen Jesu in Judäa veran- laſst, und ihrerseits keineswegs auf das ὅτι προφήτης κ. τ. λ. zurückzuführen. Ferner ist in unsrer Stelle das Gehen nach Galiläa nicht mit einem Verlassen Judäas, sondern Samariens in Verbindung gesezt, so daſs, da es heiſst, er verlieſs Samarien und gieng nach Galiläa, weil er die Er- fahrung gemacht hatte, daſs ein Prophet in seinem Vater- land nichts gelte, vielmehr Samarien als sein Vaterland be- 3) Dieser Gedanke ist so ganz im Geiste der alten Harmonistik, dass es mich wundert, wenn wirklich erst Lücke (Comm. 1, S. 545 f.) auf denselben verfallen ist. 42*
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Siebentes Kapitel. §. 78.
se Auffassung zulässig sein, so müſste unmittelbar vorher
die ganze Dauer des auswärtigen Aufenthalts Jesu zusam-
mengefaſst sich finden: statt dessen aber ist V. 45. nur
die kurze Zeit angegeben, welche Jesus in Samarien ver-
weilt hatte, so daſs, in lächerlichem Miſsverhältniſs von
Grund und Folge, die Furcht vor der Verachtung seiner
Landsleute als der Grund bezeichnet wäre, nicht warum
er erst nach mehrmonatlichem Aufenthalt in Judäa, sondern
warum er nicht eher als nach Verfluſs zweier in Samaria
zugebrachten Tage nach Galiläa gegangen sei. Kann so-
mit, so lange man Galiläa und Nazaret als die πατρὶς Je-
su sich denkt, aus unsrer Stelle das absurdum nicht ent-
fernt werden, daſs Jesus, bewogen durch die daselbst zu
erwartende Miſsachtung, dahin gegangen sei: so war es
dem Ausleger nahe gelegt, sich aus seinem Matthäus und
Lukas zu besinnen, daſs ja Jesus vielmehr in der Davids-
stadt Bethlehem geboren, somit Judäa seine eigentliche Hei-
math sei, welche er nun, der daselbst erfahrenen Miſsach-
tung wegen, verlassen habe 3). Allein in Judäa hatte er
ja nach 4, 1. vgl. 2, 23. 3, 26 ff. einen sehr bedeutenden
Anhang gewonnen, und konnte sich also über Mangel an
τιμὴ nicht beklagen; denn die Nachstellungen der Phari-
säer, welche 4, 1. zu verstehen gegeben sind, waren
eben durch das wachsende Ansehen Jesu in Judäa veran-
laſst, und ihrerseits keineswegs auf das ὅτι προφήτης κ. τ. λ.
zurückzuführen. Ferner ist in unsrer Stelle das Gehen
nach Galiläa nicht mit einem Verlassen Judäas, sondern
Samariens in Verbindung gesezt, so daſs, da es heiſst, er
verlieſs Samarien und gieng nach Galiläa, weil er die Er-
fahrung gemacht hatte, daſs ein Prophet in seinem Vater-
land nichts gelte, vielmehr Samarien als sein Vaterland be-
3) Dieser Gedanke ist so ganz im Geiste der alten Harmonistik,
dass es mich wundert, wenn wirklich erst Lücke (Comm. 1,
S. 545 f.) auf denselben verfallen ist.
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