Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Sechstes Kapitel. §. 75.
sondern eher, wenn sie ihn nicht hat, ihn zu erdichten.
Wie überhaupt das Abstrakte in der Sage zum Concreten
umgebildet wird: so macht sie das Mittelbare zum Unmit-
telbaren, das fando audire zum Sehen, den Zuschauer
zum Theilnehmer, und da sich der Anstoss, welchen die
Pharisäer an Jesu nahmen, unter Andrem auch auf Tisch-
gebräuche bezog: so war es der Sage nahe gelegt, jenen
Anstoss an Ort und Stelle entstehen, und zu diesem Be-
hufe pharisäische Einladungen an Jesum ergehen zu las-
sen, von welchen nun auch bedenklich wird, dass sie
Lukas allein hat, und die beiden andern Synoptiker nichts
von dergleichen wissen. Hiedurch wird dann auch das
andre der erwähnten Pharisäermahle verdächtig, und wir
sehen hier wieder den Lukas in seiner beliebten Geschäf-
tigkeit, zu überlieferten Reden Jesu passend scheinende
Rahmen zu verfertigen oder aufzunehmen, -- ein Verfah-
ren, welches von der historischen Wahrheit um ein gutes
Stück weiter abliegt, als das Bestreben des Matthäus,
Reden aus verschiedenen Zeiten, doch ohne eigne Zuthat,
zusammenzustellen. Der bezeichnete Klimax übrigens ist
dem sonstigen Verhältniss der Synoptiker gemäss nur so
zu denken, dass Markus, welcher in dieser Erzählung
augenscheinlich den Matthäus vor sich hatte, in dessen
Darstellung das anschauliche idontes hineintrug, während
Lukas, von beiden unabhängig, sogar ein deipnon sei es
von der weiter fortgeschrittenen Sage überkam, oder mit
regerer Phantasie dazudichtete.

Sonst ist aus dieser Rede besonders V. 35. viel besprochen
worden, wo Jesus seinen Zeitgenossen droht, dass alles un-
schuldig vergossene Blut von Abel bis zu dem im Heiligthum
ermordeten Zacharias, Barachias Sohn, über sie kommen wer-
de. Da nämlich derjenige Zacharias, von welchem 2 Chron.
24, 20 ff. ein solches Ende erzählt wird, ein Sohn nicht
von Barachias, sondern von Jojada war, dagegen im jüdi-
schen Krieg ein Zacharias Baruchs Sohn ein gleiches Ende

Sechstes Kapitel. §. 75.
sondern eher, wenn sie ihn nicht hat, ihn zu erdichten.
Wie überhaupt das Abstrakte in der Sage zum Concreten
umgebildet wird: so macht sie das Mittelbare zum Unmit-
telbaren, das fando audire zum Sehen, den Zuschauer
zum Theilnehmer, und da sich der Anstoſs, welchen die
Pharisäer an Jesu nahmen, unter Andrem auch auf Tisch-
gebräuche bezog: so war es der Sage nahe gelegt, jenen
Anstoſs an Ort und Stelle entstehen, und zu diesem Be-
hufe pharisäische Einladungen an Jesum ergehen zu las-
sen, von welchen nun auch bedenklich wird, daſs sie
Lukas allein hat, und die beiden andern Synoptiker nichts
von dergleichen wissen. Hiedurch wird dann auch das
andre der erwähnten Pharisäermahle verdächtig, und wir
sehen hier wieder den Lukas in seiner beliebten Geschäf-
tigkeit, zu überlieferten Reden Jesu passend scheinende
Rahmen zu verfertigen oder aufzunehmen, — ein Verfah-
ren, welches von der historischen Wahrheit um ein gutes
Stück weiter abliegt, als das Bestreben des Matthäus,
Reden aus verschiedenen Zeiten, doch ohne eigne Zuthat,
zusammenzustellen. Der bezeichnete Klimax übrigens ist
dem sonstigen Verhältniſs der Synoptiker gemäſs nur so
zu denken, daſs Markus, welcher in dieser Erzählung
augenscheinlich den Matthäus vor sich hatte, in dessen
Darstellung das anschauliche ἰδόντες hineintrug, während
Lukas, von beiden unabhängig, sogar ein δεῖπνον sei es
von der weiter fortgeschrittenen Sage überkam, oder mit
regerer Phantasie dazudichtete.

Sonst ist aus dieser Rede besonders V. 35. viel besprochen
worden, wo Jesus seinen Zeitgenossen droht, daſs alles un-
schuldig vergossene Blut von Abel bis zu dem im Heiligthum
ermordeten Zacharias, Barachias Sohn, über sie kommen wer-
de. Da nämlich derjenige Zacharias, von welchem 2 Chron.
24, 20 ff. ein solches Ende erzählt wird, ein Sohn nicht
von Barachias, sondern von Jojada war, dagegen im jüdi-
schen Krieg ein Zacharias Baruchs Sohn ein gleiches Ende

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0653" n="629"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Sechstes Kapitel</hi>. §. 75.</fw><lb/>
sondern eher, wenn sie ihn nicht hat, ihn zu erdichten.<lb/>
Wie überhaupt das Abstrakte in der Sage zum Concreten<lb/>
umgebildet wird: so macht sie das Mittelbare zum Unmit-<lb/>
telbaren, das <hi rendition="#i">fando audire</hi> zum Sehen, den Zuschauer<lb/>
zum Theilnehmer, und da sich der Ansto&#x017F;s, welchen die<lb/>
Pharisäer an Jesu nahmen, unter Andrem auch auf Tisch-<lb/>
gebräuche bezog: so war es der Sage nahe gelegt, jenen<lb/>
Ansto&#x017F;s an Ort und Stelle entstehen, und zu diesem Be-<lb/>
hufe pharisäische Einladungen an Jesum ergehen zu las-<lb/>
sen, von welchen nun auch bedenklich wird, da&#x017F;s sie<lb/>
Lukas allein hat, und die beiden andern Synoptiker nichts<lb/>
von dergleichen wissen. Hiedurch wird dann auch das<lb/>
andre der erwähnten Pharisäermahle verdächtig, und wir<lb/>
sehen hier wieder den Lukas in seiner beliebten Geschäf-<lb/>
tigkeit, zu überlieferten Reden Jesu passend scheinende<lb/>
Rahmen zu verfertigen oder aufzunehmen, &#x2014; ein Verfah-<lb/>
ren, welches von der historischen Wahrheit um ein gutes<lb/>
Stück weiter abliegt, als das Bestreben des Matthäus,<lb/>
Reden aus verschiedenen Zeiten, doch ohne eigne Zuthat,<lb/>
zusammenzustellen. Der bezeichnete Klimax übrigens ist<lb/>
dem sonstigen Verhältni&#x017F;s der Synoptiker gemä&#x017F;s nur so<lb/>
zu denken, da&#x017F;s Markus, welcher in dieser Erzählung<lb/>
augenscheinlich den Matthäus vor sich hatte, in dessen<lb/>
Darstellung das anschauliche &#x1F30;&#x03B4;&#x03CC;&#x03BD;&#x03C4;&#x03B5;&#x03C2; hineintrug, während<lb/>
Lukas, von beiden unabhängig, sogar ein &#x03B4;&#x03B5;&#x1FD6;&#x03C0;&#x03BD;&#x03BF;&#x03BD; sei es<lb/>
von der weiter fortgeschrittenen Sage überkam, oder mit<lb/>
regerer Phantasie dazudichtete.</p><lb/>
            <p>Sonst ist aus dieser Rede besonders V. 35. viel besprochen<lb/>
worden, wo Jesus seinen Zeitgenossen droht, da&#x017F;s alles un-<lb/>
schuldig vergossene Blut von Abel bis zu dem im Heiligthum<lb/>
ermordeten Zacharias, Barachias Sohn, über sie kommen wer-<lb/>
de. Da nämlich derjenige Zacharias, von welchem 2 Chron.<lb/>
24, 20 ff. ein solches Ende erzählt wird, ein Sohn nicht<lb/>
von Barachias, sondern von Jojada war, dagegen im jüdi-<lb/>
schen Krieg ein Zacharias Baruchs Sohn ein gleiches Ende<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[629/0653] Sechstes Kapitel. §. 75. sondern eher, wenn sie ihn nicht hat, ihn zu erdichten. Wie überhaupt das Abstrakte in der Sage zum Concreten umgebildet wird: so macht sie das Mittelbare zum Unmit- telbaren, das fando audire zum Sehen, den Zuschauer zum Theilnehmer, und da sich der Anstoſs, welchen die Pharisäer an Jesu nahmen, unter Andrem auch auf Tisch- gebräuche bezog: so war es der Sage nahe gelegt, jenen Anstoſs an Ort und Stelle entstehen, und zu diesem Be- hufe pharisäische Einladungen an Jesum ergehen zu las- sen, von welchen nun auch bedenklich wird, daſs sie Lukas allein hat, und die beiden andern Synoptiker nichts von dergleichen wissen. Hiedurch wird dann auch das andre der erwähnten Pharisäermahle verdächtig, und wir sehen hier wieder den Lukas in seiner beliebten Geschäf- tigkeit, zu überlieferten Reden Jesu passend scheinende Rahmen zu verfertigen oder aufzunehmen, — ein Verfah- ren, welches von der historischen Wahrheit um ein gutes Stück weiter abliegt, als das Bestreben des Matthäus, Reden aus verschiedenen Zeiten, doch ohne eigne Zuthat, zusammenzustellen. Der bezeichnete Klimax übrigens ist dem sonstigen Verhältniſs der Synoptiker gemäſs nur so zu denken, daſs Markus, welcher in dieser Erzählung augenscheinlich den Matthäus vor sich hatte, in dessen Darstellung das anschauliche ἰδόντες hineintrug, während Lukas, von beiden unabhängig, sogar ein δεῖπνον sei es von der weiter fortgeschrittenen Sage überkam, oder mit regerer Phantasie dazudichtete. Sonst ist aus dieser Rede besonders V. 35. viel besprochen worden, wo Jesus seinen Zeitgenossen droht, daſs alles un- schuldig vergossene Blut von Abel bis zu dem im Heiligthum ermordeten Zacharias, Barachias Sohn, über sie kommen wer- de. Da nämlich derjenige Zacharias, von welchem 2 Chron. 24, 20 ff. ein solches Ende erzählt wird, ein Sohn nicht von Barachias, sondern von Jojada war, dagegen im jüdi- schen Krieg ein Zacharias Baruchs Sohn ein gleiches Ende

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/653
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 629. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/653>, abgerufen am 25.11.2024.