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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Sechstes Kapitel. §. 72.
lich dass beides zugleich der Fall sei. Wer wie Tholuck
die fides divina, oder wie Paulus die fides humana der
Evangelisten unverlezt halten will, dem empfiehlt sich die
erstere Ansicht, weil Weglassen von Vorgekommenem ein
unverfänglicherer Fehler ist, als Hinzusetzen von Nicht-
vorgekommenem, und man beruft sich hiebei auf den
engen Zusammenhang, welchen man in der Bergrede des
Matthäus nachweisen zu können glaubt, und der darauf
hinweisen soll, dass die Rede in Einem Zuge von Jesus
selbst so gesprochen worden sei. Allein theils kann ja
wohl auch ein nur nicht ganz ungeschickter Referent ur-
sprünglich nicht zusammengehörige Aussprüche in erträgli-
chen Zusammenhang bringen, theils geht dieser, wie jene
Erklärer selbst gestehen müssen 5), nur etwas über die
Hälfte der Bergrede hinüber, so dass von 6, 19. an mehr
oder minder isolirte Sentenzen folgen, und sogar an sol-
chen Aussprüchen fehlt es nicht ganz, welche an dieser
Stelle gar nicht gethan sein können. Daher hat sich die
neueste Kritik umgekehrt dahin entschieden, dass die kür-
zere Relation bei Lukas ganz oder doch nahezu die ur-
sprüngliche Gestalt der Rede Jesu wiedergebe, Matthäus
dagegen sich erlaubt habe, an dasjenige, was Jesus bei
dem beschriebenen Anlass vorgetragen, manches bei andern
Gelegenheiten von ihm Gesprochene in der Art anzurei-
hen, dass der gemeinschaftliche Grundriss, nämlich An-
fang, Schluss und zwischen beiden das Wesentliche des
Gedankenfortschritts blieb, in dieses Fachwerk aber mehr
oder minder Verwandtes von anderwärts her eingeschoben
wurde 6); eine Ansicht, welche hauptsächlich dadurch
unterstüzt wird, dass viele von den Aussprüchen, welche
Matthäus in der Bergrede zusammenstellt, bei Lukas und

5) Tholuck, S. 24. Paulus S. 584.
6) So Schulz, vom Abendmahl, S. 313 f. Sieffert, S. 74 ff.
Fritzsche, S. 301.

Sechstes Kapitel. §. 72.
lich daſs beides zugleich der Fall sei. Wer wie Tholuck
die fides divina, oder wie Paulus die fides humana der
Evangelisten unverlezt halten will, dem empfiehlt sich die
erstere Ansicht, weil Weglassen von Vorgekommenem ein
unverfänglicherer Fehler ist, als Hinzusetzen von Nicht-
vorgekommenem, und man beruft sich hiebei auf den
engen Zusammenhang, welchen man in der Bergrede des
Matthäus nachweisen zu können glaubt, und der darauf
hinweisen soll, daſs die Rede in Einem Zuge von Jesus
selbst so gesprochen worden sei. Allein theils kann ja
wohl auch ein nur nicht ganz ungeschickter Referent ur-
sprünglich nicht zusammengehörige Aussprüche in erträgli-
chen Zusammenhang bringen, theils geht dieser, wie jene
Erklärer selbst gestehen müssen 5), nur etwas über die
Hälfte der Bergrede hinüber, so daſs von 6, 19. an mehr
oder minder isolirte Sentenzen folgen, und sogar an sol-
chen Aussprüchen fehlt es nicht ganz, welche an dieser
Stelle gar nicht gethan sein können. Daher hat sich die
neueste Kritik umgekehrt dahin entschieden, daſs die kür-
zere Relation bei Lukas ganz oder doch nahezu die ur-
sprüngliche Gestalt der Rede Jesu wiedergebe, Matthäus
dagegen sich erlaubt habe, an dasjenige, was Jesus bei
dem beschriebenen Anlaſs vorgetragen, manches bei andern
Gelegenheiten von ihm Gesprochene in der Art anzurei-
hen, daſs der gemeinschaftliche Grundriſs, nämlich An-
fang, Schluſs und zwischen beiden das Wesentliche des
Gedankenfortschritts blieb, in dieses Fachwerk aber mehr
oder minder Verwandtes von anderwärts her eingeschoben
wurde 6); eine Ansicht, welche hauptsächlich dadurch
unterstüzt wird, daſs viele von den Aussprüchen, welche
Matthäus in der Bergrede zusammenstellt, bei Lukas und

5) Tholuck, S. 24. Paulus S. 584.
6) So Schulz, vom Abendmahl, S. 313 f. Sieffert, S. 74 ff.
Fritzsche, S. 301.
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[573/0597] Sechstes Kapitel. §. 72. lich daſs beides zugleich der Fall sei. Wer wie Tholuck die fides divina, oder wie Paulus die fides humana der Evangelisten unverlezt halten will, dem empfiehlt sich die erstere Ansicht, weil Weglassen von Vorgekommenem ein unverfänglicherer Fehler ist, als Hinzusetzen von Nicht- vorgekommenem, und man beruft sich hiebei auf den engen Zusammenhang, welchen man in der Bergrede des Matthäus nachweisen zu können glaubt, und der darauf hinweisen soll, daſs die Rede in Einem Zuge von Jesus selbst so gesprochen worden sei. Allein theils kann ja wohl auch ein nur nicht ganz ungeschickter Referent ur- sprünglich nicht zusammengehörige Aussprüche in erträgli- chen Zusammenhang bringen, theils geht dieser, wie jene Erklärer selbst gestehen müssen 5), nur etwas über die Hälfte der Bergrede hinüber, so daſs von 6, 19. an mehr oder minder isolirte Sentenzen folgen, und sogar an sol- chen Aussprüchen fehlt es nicht ganz, welche an dieser Stelle gar nicht gethan sein können. Daher hat sich die neueste Kritik umgekehrt dahin entschieden, daſs die kür- zere Relation bei Lukas ganz oder doch nahezu die ur- sprüngliche Gestalt der Rede Jesu wiedergebe, Matthäus dagegen sich erlaubt habe, an dasjenige, was Jesus bei dem beschriebenen Anlaſs vorgetragen, manches bei andern Gelegenheiten von ihm Gesprochene in der Art anzurei- hen, daſs der gemeinschaftliche Grundriſs, nämlich An- fang, Schluſs und zwischen beiden das Wesentliche des Gedankenfortschritts blieb, in dieses Fachwerk aber mehr oder minder Verwandtes von anderwärts her eingeschoben wurde 6); eine Ansicht, welche hauptsächlich dadurch unterstüzt wird, daſs viele von den Aussprüchen, welche Matthäus in der Bergrede zusammenstellt, bei Lukas und 5) Tholuck, S. 24. Paulus S. 584. 6) So Schulz, vom Abendmahl, S. 313 f. Sieffert, S. 74 ff. Fritzsche, S. 301.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 573. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/597>, abgerufen am 22.11.2024.