Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweiter Abschnitt.
alle diese entalmata anthropon, als eine phute[i]a, en ouk eph[u]-
teusen o pater o ouranios, zu Grunde gehen werden (15,
9. 13.). Insofern dieses pharisäische Satzungswesen gros-
sentheils auf Äusserlichkeiten gerichtet war, unter welchen
der edle sittliche Kern des mosaischen Gesetzes sich verlor,
wie wenn man durch Geschenke an den Tempel sich von
der schuldigen Unterstützung bedürftiger Eltern dispensi-
ren liess (15, 5.), oder über dem Verzehnten des Tills und
Kümmels die Nächstenliebe vergass (23, 23.): so fällt frei-
lich diese Unterscheidung mit der vorigen gewissermassen
zusammen, indem es in den rabbinischen Satzungen eben
die blos ceremonielle Richtung war, was Jesus perhorres-
cirte, im mosaischen Gesetze aber der moralisch-religiöse
Kern, um dessen willen er es hauptsächlich schäzte. Nur
dass man dann immer nicht sagen darf, er habe das mo-
saische Gesez nur diesem lezteren Theile nach wollen be-
stehen lassen, da die angeführten Stellen namentlich aus
der Bergrede klar beweisen, dass er auch das blos Rituelle
nicht aufzuheben beabsichtigte.

Consequenterweise hätte allerdings Jesus, wenn er ein-
mal das auf Sittlichkeit und geistige Gottesverehrung sich
Beziehende als das allein Wesentliche in der Religion er-
kannt hatte, alles blos Rituelle, sofern es sich religiöse Be-
deutung anmasste, dergleichen sich schon eine grosse Mas-
se im mosaischen Gesetze selber fand, verwerfen müssen:
allein man weiss, wie langsam solche Consequenzen, wenn
ihnen ein geheiligtes Herkommen entgegensteht, gezogen
werden. Dass Gehorsam besser denn Opfer sei, hat an-
geblich schon Samuel erkannt (1. Sam. 15, 22.), und As-
saph, dass ein Opfer gefühlten Danks Gott besser gefalle,
als von geschlachteten Thieren (Ps. 50.: und doch, wie
lange wurden noch Opfer neben und statt des wahren Ge-
horsams beibehalten? Lebendiger noch als jene Alten war
Jesus von dieser Überzeugung durchdrungen; die wahre
entole tou theou am mosaischen Gesez war ihm eigentlich nur

Zweiter Abschnitt.
alle diese ἐντάλματα ἀνϑρώπων, als eine φυτε[ί]α, ἣν οὐκ ἐφ[ύ]-
τευσεν ὁ πατὴρ ὁ οὐράνιος, zu Grunde gehen werden (15,
9. 13.). Insofern dieses pharisäische Satzungswesen gros-
sentheils auf Äusserlichkeiten gerichtet war, unter welchen
der edle sittliche Kern des mosaischen Gesetzes sich verlor,
wie wenn man durch Geschenke an den Tempel sich von
der schuldigen Unterstützung bedürftiger Eltern dispensi-
ren lieſs (15, 5.), oder über dem Verzehnten des Tills und
Kümmels die Nächstenliebe vergaſs (23, 23.): so fällt frei-
lich diese Unterscheidung mit der vorigen gewissermaſsen
zusammen, indem es in den rabbinischen Satzungen eben
die blos ceremonielle Richtung war, was Jesus perhorres-
cirte, im mosaischen Gesetze aber der moralisch-religiöse
Kern, um dessen willen er es hauptsächlich schäzte. Nur
daſs man dann immer nicht sagen darf, er habe das mo-
saische Gesez nur diesem lezteren Theile nach wollen be-
stehen lassen, da die angeführten Stellen namentlich aus
der Bergrede klar beweisen, daſs er auch das blos Rituelle
nicht aufzuheben beabsichtigte.

Consequenterweise hätte allerdings Jesus, wenn er ein-
mal das auf Sittlichkeit und geistige Gottesverehrung sich
Beziehende als das allein Wesentliche in der Religion er-
kannt hatte, alles blos Rituelle, sofern es sich religiöse Be-
deutung anmaſste, dergleichen sich schon eine groſse Mas-
se im mosaischen Gesetze selber fand, verwerfen müssen:
allein man weiſs, wie langsam solche Consequenzen, wenn
ihnen ein geheiligtes Herkommen entgegensteht, gezogen
werden. Daſs Gehorsam besser denn Opfer sei, hat an-
geblich schon Samuel erkannt (1. Sam. 15, 22.), und As-
saph, daſs ein Opfer gefühlten Danks Gott besser gefalle,
als von geschlachteten Thieren (Ps. 50.: und doch, wie
lange wurden noch Opfer neben und statt des wahren Ge-
horsams beibehalten? Lebendiger noch als jene Alten war
Jesus von dieser Überzeugung durchdrungen; die wahre
ἐντολὴ του ϑεοῦ am mosaischen Gesez war ihm eigentlich nur

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0524" n="500"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
alle diese <foreign xml:lang="ell">&#x1F10;&#x03BD;&#x03C4;&#x03AC;&#x03BB;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B1; &#x1F00;&#x03BD;&#x03D1;&#x03C1;&#x03CE;&#x03C0;&#x03C9;&#x03BD;</foreign>, als eine <foreign xml:lang="ell">&#x03C6;&#x03C5;&#x03C4;&#x03B5;<supplied>&#x03AF;</supplied>&#x03B1;, &#x1F23;&#x03BD; &#x03BF;&#x1F50;&#x03BA; &#x1F10;&#x03C6;<supplied>&#x03CD;</supplied>-<lb/>
&#x03C4;&#x03B5;&#x03C5;&#x03C3;&#x03B5;&#x03BD; &#x1F41; &#x03C0;&#x03B1;&#x03C4;&#x1F74;&#x03C1; &#x1F41; &#x03BF;&#x1F50;&#x03C1;&#x03AC;&#x03BD;&#x03B9;&#x03BF;&#x03C2;</foreign>, zu Grunde gehen werden (15,<lb/>
9. 13.). Insofern dieses pharisäische Satzungswesen gros-<lb/>
sentheils auf Äusserlichkeiten gerichtet war, unter welchen<lb/>
der edle sittliche Kern des mosaischen Gesetzes sich verlor,<lb/>
wie wenn man durch Geschenke an den Tempel sich von<lb/>
der schuldigen Unterstützung bedürftiger Eltern dispensi-<lb/>
ren lie&#x017F;s (15, 5.), oder über dem Verzehnten des Tills und<lb/>
Kümmels die Nächstenliebe verga&#x017F;s (23, 23.): so fällt frei-<lb/>
lich diese Unterscheidung mit der vorigen gewisserma&#x017F;sen<lb/>
zusammen, indem es in den rabbinischen Satzungen eben<lb/>
die blos ceremonielle Richtung war, was Jesus perhorres-<lb/>
cirte, im mosaischen Gesetze aber der moralisch-religiöse<lb/>
Kern, um dessen willen er es hauptsächlich schäzte. Nur<lb/>
da&#x017F;s man dann immer nicht sagen darf, er habe das mo-<lb/>
saische Gesez nur diesem lezteren Theile nach wollen be-<lb/>
stehen lassen, da die angeführten Stellen namentlich aus<lb/>
der Bergrede klar beweisen, da&#x017F;s er auch das blos Rituelle<lb/>
nicht aufzuheben beabsichtigte.</p><lb/>
            <p>Consequenterweise hätte allerdings Jesus, wenn er ein-<lb/>
mal das auf Sittlichkeit und geistige Gottesverehrung sich<lb/>
Beziehende als das allein Wesentliche in der Religion er-<lb/>
kannt hatte, alles blos Rituelle, sofern es sich religiöse Be-<lb/>
deutung anma&#x017F;ste, dergleichen sich schon eine gro&#x017F;se Mas-<lb/>
se im mosaischen Gesetze selber fand, verwerfen müssen:<lb/>
allein man wei&#x017F;s, wie langsam solche Consequenzen, wenn<lb/>
ihnen ein geheiligtes Herkommen entgegensteht, gezogen<lb/>
werden. Da&#x017F;s Gehorsam besser denn Opfer sei, hat an-<lb/>
geblich schon Samuel erkannt (1. Sam. 15, 22.), und As-<lb/>
saph, da&#x017F;s ein Opfer gefühlten Danks Gott besser gefalle,<lb/>
als von geschlachteten Thieren (Ps. 50.: und doch, wie<lb/>
lange wurden noch Opfer neben und statt des wahren Ge-<lb/>
horsams beibehalten? Lebendiger noch als jene Alten war<lb/>
Jesus von dieser Überzeugung durchdrungen; die wahre<lb/><foreign xml:lang="ell">&#x1F10;&#x03BD;&#x03C4;&#x03BF;&#x03BB;&#x1F74; &#x03C4;&#x03BF;&#x03C5; &#x03D1;&#x03B5;&#x03BF;&#x1FE6;</foreign> <hi rendition="#g">am</hi> mosaischen Gesez war ihm eigentlich nur<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[500/0524] Zweiter Abschnitt. alle diese ἐντάλματα ἀνϑρώπων, als eine φυτεία, ἣν οὐκ ἐφύ- τευσεν ὁ πατὴρ ὁ οὐράνιος, zu Grunde gehen werden (15, 9. 13.). Insofern dieses pharisäische Satzungswesen gros- sentheils auf Äusserlichkeiten gerichtet war, unter welchen der edle sittliche Kern des mosaischen Gesetzes sich verlor, wie wenn man durch Geschenke an den Tempel sich von der schuldigen Unterstützung bedürftiger Eltern dispensi- ren lieſs (15, 5.), oder über dem Verzehnten des Tills und Kümmels die Nächstenliebe vergaſs (23, 23.): so fällt frei- lich diese Unterscheidung mit der vorigen gewissermaſsen zusammen, indem es in den rabbinischen Satzungen eben die blos ceremonielle Richtung war, was Jesus perhorres- cirte, im mosaischen Gesetze aber der moralisch-religiöse Kern, um dessen willen er es hauptsächlich schäzte. Nur daſs man dann immer nicht sagen darf, er habe das mo- saische Gesez nur diesem lezteren Theile nach wollen be- stehen lassen, da die angeführten Stellen namentlich aus der Bergrede klar beweisen, daſs er auch das blos Rituelle nicht aufzuheben beabsichtigte. Consequenterweise hätte allerdings Jesus, wenn er ein- mal das auf Sittlichkeit und geistige Gottesverehrung sich Beziehende als das allein Wesentliche in der Religion er- kannt hatte, alles blos Rituelle, sofern es sich religiöse Be- deutung anmaſste, dergleichen sich schon eine groſse Mas- se im mosaischen Gesetze selber fand, verwerfen müssen: allein man weiſs, wie langsam solche Consequenzen, wenn ihnen ein geheiligtes Herkommen entgegensteht, gezogen werden. Daſs Gehorsam besser denn Opfer sei, hat an- geblich schon Samuel erkannt (1. Sam. 15, 22.), und As- saph, daſs ein Opfer gefühlten Danks Gott besser gefalle, als von geschlachteten Thieren (Ps. 50.: und doch, wie lange wurden noch Opfer neben und statt des wahren Ge- horsams beibehalten? Lebendiger noch als jene Alten war Jesus von dieser Überzeugung durchdrungen; die wahre ἐντολὴ του ϑεοῦ am mosaischen Gesez war ihm eigentlich nur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/524
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/524>, abgerufen am 25.11.2024.