Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweiter Abschnitt.
auf die Seite der Synoptiker neigt: so fragt sich, ob das
Resultat dasselbe bleibt, wenn zu den Verhältnissen und
Absichten Jesu hinaufgestiegen und von diesem Gesichts-
punkt aus zweitens gefragt wird, ob es wahrscheinlicher
sei, dass Jesus während seines öffentlichen Lebens mehr-
mals oder nur Einmal in Judäa und Jerusalem gewesen
sei? Auch hier zwar ist die Bedenklichkeit, dass mit den
mehreren Festreisen auch ein Hauptmoment, die Bildung
Jesu zu erklären, wegfiele, nicht schwer zu heben. Denn
theils reicht zur Erklärung der Bildung Jesu auch die An-
nahme von mehreren Festreisen nicht aus, und da auf die
innere Begabung doch das Hauptgewicht gelegt werden
muss, können wir nicht wissen, ob einem Geist wie der
seinige war, nicht auch Galiläa genug Bildungsmittel dar-
bot; theils würden ja, wenn wir den Synoptikern folgen,
nur diejenigen Festreisen wegfallen, welche Jesus nach sei-
nem öffentlichen Auftritt gemacht haben soll, so dass er
früher, ohne noch eine Rolle zu spielen, öfters auf den Festen
gegenwärtig gewesen sein könnte. Wollte man aber selbst
das nicht begreiflich finden, wie Jesus nach seinem öffent-
lichen Auftritt sich so lange auf Galiläa habe beschränken
mögen, statt auf den durch höhere Bildung und grössere
Frequenz weit tauglicheren Boden Judäa's und Jerusalems
sich zu begeben: so ist es ja längst anerkannt, wie in dem
von Priesterherrschaft und Pharisäerthum weniger abhän-
gigen Galiläa mit seinen einfachen und kräftigen Naturen
Jesus leichter Eingang finden und daher Ursache genug ha-
ben konnte, erst nachdem er hier durch längere Wirksam-
keit einen festen Grund gelegt, sich auch nach Jerusalem
zu wenden, wo er, als im Mittelpunkt des priesterlichen
und pharisäischen Regiments, auf stärkeren Widerstand
rechnen musste. Bedenklicher wird die Sache, wenn man
die Darstellung der Synoptiker im Verhältniss zum mosai-
schen Gesez und zur jüdischen Sitte betrachtet. Bei der
strengen Vorschrift des Gesetzes, dass jeder Israelit jähr-

Zweiter Abschnitt.
auf die Seite der Synoptiker neigt: so fragt sich, ob das
Resultat dasselbe bleibt, wenn zu den Verhältnissen und
Absichten Jesu hinaufgestiegen und von diesem Gesichts-
punkt aus zweitens gefragt wird, ob es wahrscheinlicher
sei, daſs Jesus während seines öffentlichen Lebens mehr-
mals oder nur Einmal in Judäa und Jerusalem gewesen
sei? Auch hier zwar ist die Bedenklichkeit, daſs mit den
mehreren Festreisen auch ein Hauptmoment, die Bildung
Jesu zu erklären, wegfiele, nicht schwer zu heben. Denn
theils reicht zur Erklärung der Bildung Jesu auch die An-
nahme von mehreren Festreisen nicht aus, und da auf die
innere Begabung doch das Hauptgewicht gelegt werden
muſs, können wir nicht wissen, ob einem Geist wie der
seinige war, nicht auch Galiläa genug Bildungsmittel dar-
bot; theils würden ja, wenn wir den Synoptikern folgen,
nur diejenigen Festreisen wegfallen, welche Jesus nach sei-
nem öffentlichen Auftritt gemacht haben soll, so daſs er
früher, ohne noch eine Rolle zu spielen, öfters auf den Festen
gegenwärtig gewesen sein könnte. Wollte man aber selbst
das nicht begreiflich finden, wie Jesus nach seinem öffent-
lichen Auftritt sich so lange auf Galiläa habe beschränken
mögen, statt auf den durch höhere Bildung und gröſsere
Frequenz weit tauglicheren Boden Judäa's und Jerusalems
sich zu begeben: so ist es ja längst anerkannt, wie in dem
von Priesterherrschaft und Pharisäerthum weniger abhän-
gigen Galiläa mit seinen einfachen und kräftigen Naturen
Jesus leichter Eingang finden und daher Ursache genug ha-
ben konnte, erst nachdem er hier durch längere Wirksam-
keit einen festen Grund gelegt, sich auch nach Jerusalem
zu wenden, wo er, als im Mittelpunkt des priesterlichen
und pharisäischen Regiments, auf stärkeren Widerstand
rechnen muſste. Bedenklicher wird die Sache, wenn man
die Darstellung der Synoptiker im Verhältniſs zum mosai-
schen Gesez und zur jüdischen Sitte betrachtet. Bei der
strengen Vorschrift des Gesetzes, daſs jeder Israëlit jähr-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0466" n="442"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
auf die Seite der Synoptiker neigt: so fragt sich, ob das<lb/>
Resultat dasselbe bleibt, wenn zu den Verhältnissen und<lb/>
Absichten Jesu hinaufgestiegen und von diesem Gesichts-<lb/>
punkt aus zweitens gefragt wird, ob es wahrscheinlicher<lb/>
sei, da&#x017F;s Jesus während seines öffentlichen Lebens mehr-<lb/>
mals oder nur Einmal in Judäa und Jerusalem gewesen<lb/>
sei? Auch hier zwar ist die Bedenklichkeit, da&#x017F;s mit den<lb/>
mehreren Festreisen auch ein Hauptmoment, die Bildung<lb/>
Jesu zu erklären, wegfiele, nicht schwer zu heben. Denn<lb/>
theils reicht zur Erklärung der Bildung Jesu auch die An-<lb/>
nahme von mehreren Festreisen nicht aus, und da auf die<lb/>
innere Begabung doch das Hauptgewicht gelegt werden<lb/>
mu&#x017F;s, können wir nicht wissen, ob einem Geist wie der<lb/>
seinige war, nicht auch Galiläa genug Bildungsmittel dar-<lb/>
bot; theils würden ja, wenn wir den Synoptikern folgen,<lb/>
nur diejenigen Festreisen wegfallen, welche Jesus nach sei-<lb/>
nem öffentlichen Auftritt gemacht haben soll, so da&#x017F;s er<lb/>
früher, ohne noch eine Rolle zu spielen, öfters auf den Festen<lb/>
gegenwärtig gewesen sein könnte. Wollte man aber selbst<lb/>
das nicht begreiflich finden, wie Jesus nach seinem öffent-<lb/>
lichen Auftritt sich so lange auf Galiläa habe beschränken<lb/>
mögen, statt auf den durch höhere Bildung und grö&#x017F;sere<lb/>
Frequenz weit tauglicheren Boden Judäa's und Jerusalems<lb/>
sich zu begeben: so ist es ja längst anerkannt, wie in dem<lb/>
von Priesterherrschaft und Pharisäerthum weniger abhän-<lb/>
gigen Galiläa mit seinen einfachen und kräftigen Naturen<lb/>
Jesus leichter Eingang finden und daher Ursache genug ha-<lb/>
ben konnte, erst nachdem er hier durch längere Wirksam-<lb/>
keit einen festen Grund gelegt, sich auch nach Jerusalem<lb/>
zu wenden, wo er, als im Mittelpunkt des priesterlichen<lb/>
und pharisäischen Regiments, auf stärkeren Widerstand<lb/>
rechnen mu&#x017F;ste. Bedenklicher wird die Sache, wenn man<lb/>
die Darstellung der Synoptiker im Verhältni&#x017F;s zum mosai-<lb/>
schen Gesez und zur jüdischen Sitte betrachtet. Bei der<lb/>
strengen Vorschrift des Gesetzes, da&#x017F;s jeder Israëlit jähr-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[442/0466] Zweiter Abschnitt. auf die Seite der Synoptiker neigt: so fragt sich, ob das Resultat dasselbe bleibt, wenn zu den Verhältnissen und Absichten Jesu hinaufgestiegen und von diesem Gesichts- punkt aus zweitens gefragt wird, ob es wahrscheinlicher sei, daſs Jesus während seines öffentlichen Lebens mehr- mals oder nur Einmal in Judäa und Jerusalem gewesen sei? Auch hier zwar ist die Bedenklichkeit, daſs mit den mehreren Festreisen auch ein Hauptmoment, die Bildung Jesu zu erklären, wegfiele, nicht schwer zu heben. Denn theils reicht zur Erklärung der Bildung Jesu auch die An- nahme von mehreren Festreisen nicht aus, und da auf die innere Begabung doch das Hauptgewicht gelegt werden muſs, können wir nicht wissen, ob einem Geist wie der seinige war, nicht auch Galiläa genug Bildungsmittel dar- bot; theils würden ja, wenn wir den Synoptikern folgen, nur diejenigen Festreisen wegfallen, welche Jesus nach sei- nem öffentlichen Auftritt gemacht haben soll, so daſs er früher, ohne noch eine Rolle zu spielen, öfters auf den Festen gegenwärtig gewesen sein könnte. Wollte man aber selbst das nicht begreiflich finden, wie Jesus nach seinem öffent- lichen Auftritt sich so lange auf Galiläa habe beschränken mögen, statt auf den durch höhere Bildung und gröſsere Frequenz weit tauglicheren Boden Judäa's und Jerusalems sich zu begeben: so ist es ja längst anerkannt, wie in dem von Priesterherrschaft und Pharisäerthum weniger abhän- gigen Galiläa mit seinen einfachen und kräftigen Naturen Jesus leichter Eingang finden und daher Ursache genug ha- ben konnte, erst nachdem er hier durch längere Wirksam- keit einen festen Grund gelegt, sich auch nach Jerusalem zu wenden, wo er, als im Mittelpunkt des priesterlichen und pharisäischen Regiments, auf stärkeren Widerstand rechnen muſste. Bedenklicher wird die Sache, wenn man die Darstellung der Synoptiker im Verhältniſs zum mosai- schen Gesez und zur jüdischen Sitte betrachtet. Bei der strengen Vorschrift des Gesetzes, daſs jeder Israëlit jähr-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/466
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/466>, abgerufen am 25.11.2024.