rusalem wussten, dieselben nicht erwähnt haben sollten, und man muss sagen: hat Johannes Recht, so wissen die drei ersten Evangelisten von einem wesentlichen Theil der früheren Wirksamkeit Jesu nichts; haben aber diese Recht, so hat der Verfasser des vierten Evangeliums, oder, wenn er einer Sage folgte, diese, einen grossen Theil des von ihm erzählten Wirkens Jesu erdichtet, wenigstens in eine falsche Lokalität verlegt.
Näher angesehen indess verhalten sich Johannes und die Synoptiker nicht blos so, dass diese etwas nicht wüss- ten, was jener berichtet, sondern ihr Verhältniss ist der Art, dass sie von positiv entgegengesezten Annahmen aus- gehen. Wie nämlich die Synoptiker und besonders Mat- thäus, so oft Jesus, seit er sich einmal nach des Täufers Verhaftung dort ansässig gemacht hatte, Galiläa verlässt, selten versäumen, einen besondern Grund davon anzuge- ben, sei es, dass er dem Volksandrang durch eine Über- fahrt über den See habe entgehen wollen (Matth. 8, 18.), oder vor den Nachstellungen des Herodes in die peräische Wüste sich zurückgezogen habe (14, 13.), oder dass er we- gen des Anstosses, welchen die Schriftgelehrten an seinen Reden genommen, in die Gegend von Tyrus und Sidon entwichen sei (15, 21.): so finden wir umgekehrt bei Jo- hannes gewöhnlich einen besondern Grund dafür angegeben, dass Jesus Judäa verlässt und sich nach Galiläa zurückzieht. Will man auch nicht behaupten, dass gleich seine erste Reise dahin nach der Taufe nur durch die Einladung nach Kana motivirt erscheine, so ist doch davon, dass Jesus nach dem ersten Pascha, das er seit seinem öffentlichen Auftritt in Jerusalem zugebracht, wieder nach Galiläa geht, als Grund ausdrücklich die gefährliche Aufmerksamkeit angege- ben, welche die wachsende Zahl seiner Anhänger bei den Pharisäern erregt hatte (4, 1 ff.); auch dass er sich nach dem zweiten von ihm besuchten Feste in die Gegend öst- lich vom See Tiberias zurückzieht (6, 1.), muss wohl ebenso
Drittes Kapitel. §. 53.
rusalem wuſsten, dieselben nicht erwähnt haben sollten, und man muſs sagen: hat Johannes Recht, so wissen die drei ersten Evangelisten von einem wesentlichen Theil der früheren Wirksamkeit Jesu nichts; haben aber diese Recht, so hat der Verfasser des vierten Evangeliums, oder, wenn er einer Sage folgte, diese, einen groſsen Theil des von ihm erzählten Wirkens Jesu erdichtet, wenigstens in eine falsche Lokalität verlegt.
Näher angesehen indeſs verhalten sich Johannes und die Synoptiker nicht blos so, daſs diese etwas nicht wüſs- ten, was jener berichtet, sondern ihr Verhältniſs ist der Art, daſs sie von positiv entgegengesezten Annahmen aus- gehen. Wie nämlich die Synoptiker und besonders Mat- thäus, so oft Jesus, seit er sich einmal nach des Täufers Verhaftung dort ansässig gemacht hatte, Galiläa verläſst, selten versäumen, einen besondern Grund davon anzuge- ben, sei es, daſs er dem Volksandrang durch eine Über- fahrt über den See habe entgehen wollen (Matth. 8, 18.), oder vor den Nachstellungen des Herodes in die peräische Wüste sich zurückgezogen habe (14, 13.), oder daſs er we- gen des Anstosses, welchen die Schriftgelehrten an seinen Reden genommen, in die Gegend von Tyrus und Sidon entwichen sei (15, 21.): so finden wir umgekehrt bei Jo- hannes gewöhnlich einen besondern Grund dafür angegeben, daſs Jesus Judäa verläſst und sich nach Galiläa zurückzieht. Will man auch nicht behaupten, daſs gleich seine erste Reise dahin nach der Taufe nur durch die Einladung nach Kana motivirt erscheine, so ist doch davon, daſs Jesus nach dem ersten Pascha, das er seit seinem öffentlichen Auftritt in Jerusalem zugebracht, wieder nach Galiläa geht, als Grund ausdrücklich die gefährliche Aufmerksamkeit angege- ben, welche die wachsende Zahl seiner Anhänger bei den Pharisäern erregt hatte (4, 1 ff.); auch daſs er sich nach dem zweiten von ihm besuchten Feste in die Gegend öst- lich vom See Tiberias zurückzieht (6, 1.), muſs wohl ebenso
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Drittes Kapitel. §. 53.
rusalem wuſsten, dieselben nicht erwähnt haben sollten,
und man muſs sagen: hat Johannes Recht, so wissen die
drei ersten Evangelisten von einem wesentlichen Theil der
früheren Wirksamkeit Jesu nichts; haben aber diese Recht,
so hat der Verfasser des vierten Evangeliums, oder, wenn
er einer Sage folgte, diese, einen groſsen Theil des von
ihm erzählten Wirkens Jesu erdichtet, wenigstens in eine
falsche Lokalität verlegt.
Näher angesehen indeſs verhalten sich Johannes und
die Synoptiker nicht blos so, daſs diese etwas nicht wüſs-
ten, was jener berichtet, sondern ihr Verhältniſs ist der
Art, daſs sie von positiv entgegengesezten Annahmen aus-
gehen. Wie nämlich die Synoptiker und besonders Mat-
thäus, so oft Jesus, seit er sich einmal nach des Täufers
Verhaftung dort ansässig gemacht hatte, Galiläa verläſst,
selten versäumen, einen besondern Grund davon anzuge-
ben, sei es, daſs er dem Volksandrang durch eine Über-
fahrt über den See habe entgehen wollen (Matth. 8, 18.),
oder vor den Nachstellungen des Herodes in die peräische
Wüste sich zurückgezogen habe (14, 13.), oder daſs er we-
gen des Anstosses, welchen die Schriftgelehrten an seinen
Reden genommen, in die Gegend von Tyrus und Sidon
entwichen sei (15, 21.): so finden wir umgekehrt bei Jo-
hannes gewöhnlich einen besondern Grund dafür angegeben,
daſs Jesus Judäa verläſst und sich nach Galiläa zurückzieht.
Will man auch nicht behaupten, daſs gleich seine erste
Reise dahin nach der Taufe nur durch die Einladung nach
Kana motivirt erscheine, so ist doch davon, daſs Jesus nach
dem ersten Pascha, das er seit seinem öffentlichen Auftritt
in Jerusalem zugebracht, wieder nach Galiläa geht, als
Grund ausdrücklich die gefährliche Aufmerksamkeit angege-
ben, welche die wachsende Zahl seiner Anhänger bei den
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/461>, abgerufen am 22.11.2024.
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