man nicht wissen, ob nicht Manches, was er in den frü- heren Theilen seiner Schrift ohne Ortsangabe erzähle, viel- leicht ihm selber wohl bewusst, nur von ihm nicht erwähnt, bei den früheren judäischen Reisen und Aufenthalten vor- gefallen sei 2). Allein dieses angebliche Zurücktreten des lokalen Interesses bei Matthäus ist, wie man neuestens gründlich nachgewiesen hat 3), nichts weiter als eine har- monistische Fiktion. Wenn Matthäus so sorgfältig Kap. 4. den Anfang und K. 19. das Ende des vorwiegend galiläi- schen Aufenthalts Jesu angiebt: so muss doch wohl das dazwischen Erzählte, wenn nicht besonders das Gegentheil bemerkt wird, als in Galiläa vorgefallen betrachtet werden; da er es alsbald bemerklich macht, wenn Jesus nur auf kurze Zeit über den galiläischen See hinüberfuhr, oder ei- nen Zug nach Nordgaliläa unternahm: so wird er doch nicht die bedeutenderen Reisen nach Judäa und die zum Theil längeren Aufenthalte daselbst mit Stillschweigen über- gangen haben, wenn er etwas von denselben wusste oder wissen wollte. Nur so viel ist zuzugeben, dass die spe- ciellsten Lokalitätsangaben, die Bezeichnungen der Orte und Ortsgebiete, in welchen Jesus wirkte, bei Matthäus nicht selten vernachlässigt sich finden; in dem Allgemeineren der Ortsbestimmungen hingegen, in der Angabe der palästini- schen Landestheile und Provinzen, innerhalb deren Je- sus wirksam war, will er so genau sein, als irgend ein Anderer.
Man wird sich daher bequemen müssen, in diesem Stücke eine Differenz zwischen den Synoptikern und Jo- hannes einzuräumen 4), wobei dann, wer die Evangelien harmonisiren zu müssen glaubt, zu verhüten suchen muss,
2)Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 194.
3)Schneckenburger, Beiträge, S. 38 f.; über den Ursprung u. s. f. S. 7 f.
4)de Wette, Einleitung in das N. T. §. 98 und 106.
Das Leben Jesu I. Band. 28
Drittes Kapitel. §. 53.
man nicht wissen, ob nicht Manches, was er in den frü- heren Theilen seiner Schrift ohne Ortsangabe erzähle, viel- leicht ihm selber wohl bewuſst, nur von ihm nicht erwähnt, bei den früheren judäischen Reisen und Aufenthalten vor- gefallen sei 2). Allein dieses angebliche Zurücktreten des lokalen Interesses bei Matthäus ist, wie man neuestens gründlich nachgewiesen hat 3), nichts weiter als eine har- monistische Fiktion. Wenn Matthäus so sorgfältig Kap. 4. den Anfang und K. 19. das Ende des vorwiegend galiläi- schen Aufenthalts Jesu angiebt: so muſs doch wohl das dazwischen Erzählte, wenn nicht besonders das Gegentheil bemerkt wird, als in Galiläa vorgefallen betrachtet werden; da er es alsbald bemerklich macht, wenn Jesus nur auf kurze Zeit über den galiläischen See hinüberfuhr, oder ei- nen Zug nach Nordgaliläa unternahm: so wird er doch nicht die bedeutenderen Reisen nach Judäa und die zum Theil längeren Aufenthalte daselbst mit Stillschweigen über- gangen haben, wenn er etwas von denselben wuſste oder wissen wollte. Nur so viel ist zuzugeben, daſs die spe- ciellsten Lokalitätsangaben, die Bezeichnungen der Orte und Ortsgebiete, in welchen Jesus wirkte, bei Matthäus nicht selten vernachlässigt sich finden; in dem Allgemeineren der Ortsbestimmungen hingegen, in der Angabe der palästini- schen Landestheile und Provinzen, innerhalb deren Je- sus wirksam war, will er so genau sein, als irgend ein Anderer.
Man wird sich daher bequemen müssen, in diesem Stücke eine Differenz zwischen den Synoptikern und Jo- hannes einzuräumen 4), wobei dann, wer die Evangelien harmonisiren zu müssen glaubt, zu verhüten suchen muſs,
2)Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 194.
3)Schneckenburger, Beiträge, S. 38 f.; über den Ursprung u. s. f. S. 7 f.
4)de Wette, Einleitung in das N. T. §. 98 und 106.
Das Leben Jesu I. Band. 28
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Drittes Kapitel. §. 53.
man nicht wissen, ob nicht Manches, was er in den frü-
heren Theilen seiner Schrift ohne Ortsangabe erzähle, viel-
leicht ihm selber wohl bewuſst, nur von ihm nicht erwähnt,
bei den früheren judäischen Reisen und Aufenthalten vor-
gefallen sei 2). Allein dieses angebliche Zurücktreten des
lokalen Interesses bei Matthäus ist, wie man neuestens
gründlich nachgewiesen hat 3), nichts weiter als eine har-
monistische Fiktion. Wenn Matthäus so sorgfältig Kap. 4.
den Anfang und K. 19. das Ende des vorwiegend galiläi-
schen Aufenthalts Jesu angiebt: so muſs doch wohl das
dazwischen Erzählte, wenn nicht besonders das Gegentheil
bemerkt wird, als in Galiläa vorgefallen betrachtet werden;
da er es alsbald bemerklich macht, wenn Jesus nur auf
kurze Zeit über den galiläischen See hinüberfuhr, oder ei-
nen Zug nach Nordgaliläa unternahm: so wird er doch
nicht die bedeutenderen Reisen nach Judäa und die zum
Theil längeren Aufenthalte daselbst mit Stillschweigen über-
gangen haben, wenn er etwas von denselben wuſste oder
wissen wollte. Nur so viel ist zuzugeben, daſs die spe-
ciellsten Lokalitätsangaben, die Bezeichnungen der Orte und
Ortsgebiete, in welchen Jesus wirkte, bei Matthäus nicht
selten vernachlässigt sich finden; in dem Allgemeineren der
Ortsbestimmungen hingegen, in der Angabe der palästini-
schen Landestheile und Provinzen, innerhalb deren Je-
sus wirksam war, will er so genau sein, als irgend ein
Anderer.
Man wird sich daher bequemen müssen, in diesem
Stücke eine Differenz zwischen den Synoptikern und Jo-
hannes einzuräumen 4), wobei dann, wer die Evangelien
harmonisiren zu müssen glaubt, zu verhüten suchen muſs,
2) Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 194.
3) Schneckenburger, Beiträge, S. 38 f.; über den Ursprung u.
s. f. S. 7 f.
4) de Wette, Einleitung in das N. T. §. 98 und 106.
Das Leben Jesu I. Band. 28
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/457>, abgerufen am 16.02.2025.
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