Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Einleitung. §. 6. nämlich bei der euemeristischen Auffassung der alten Göt-terlehre der zwiefache Weg offen stand und auch einge- schlagen wurde, dass man die Götter der Volksreligion entweder als gute und wohlthätige Menschen der Vorzeit, als weise Gesezgeber und gerechte Fürsten nahm, welche eine dankbare Mit- und Nachwelt mit dem Glanze göttli- cher Würde umgeben haben sollte; oder aber in ihnen schlaue Betrüger und grausame Tyrannen fand, welche sich, um das Volk sich unterthänig zu machen, in den Nimbus der Göttlichkeit gehüllt haben: so war auch bei der rein menschlichen Auffassung der biblischen Geschichte neben dem von den Deisten betretenen Wege, die Subjekte derselben für schlechte und betrügerische Menschen anzu- sehen, immer noch der andre übrig, jene Subjekte zwar der unmittelbaren Göttlichkeit entkleidet zu lassen, ihnen aber dafür die reine Menschheit ungeschmälert zuzugeste- hen; ihre Thaten zwar nicht als Wunder anzustaunen, ebensowenig aber als Blendwerke zu verschreien, sondern sie für natürliche zwar, aber sittlich untadelhafte Handlun- gen zu erklären. Während der dem kirchlichen Christen- thum überhaupt feindliche Naturalismus zu jener ersteren Auffassungsweise geneigt sein musste, so war auf die zweite der Rationalismus angewiesen, welcher innerhalb der Kirche verharren wollte. Unmittelbar gegen jenen Naturalismus ist diese Ansicht von Eichhorn gekehrt wor- den in einer Beurtheilung des Wolfenbüttler Fragmenti- sten 1). Eine unmittelbare göttliche Einwirkung, wenig- stens in der A. T. lichen Urgeschichte, nicht anzuerkennen, darin ist Eichhorn mit dem Fragmentisten einverstanden. Die mythologischen Forschungen eines Heyne hatten seinen Gesichtskreis bereits so erweitert, dass er einsah, wie eine 1) Recension der übrigen, noch ungedruckten Werke des Wol-
fenbüttler Fragmentisten, in Eichhorns allgemeiner Bibliothek, erster Band 1s u. 2s Stück. Einleitung. §. 6. nämlich bei der euemeristischen Auffassung der alten Göt-terlehre der zwiefache Weg offen stand und auch einge- schlagen wurde, daſs man die Götter der Volksreligion entweder als gute und wohlthätige Menschen der Vorzeit, als weise Gesezgeber und gerechte Fürsten nahm, welche eine dankbare Mit- und Nachwelt mit dem Glanze göttli- cher Würde umgeben haben sollte; oder aber in ihnen schlaue Betrüger und grausame Tyrannen fand, welche sich, um das Volk sich unterthänig zu machen, in den Nimbus der Göttlichkeit gehüllt haben: so war auch bei der rein menschlichen Auffassung der biblischen Geschichte neben dem von den Deisten betretenen Wege, die Subjekte derselben für schlechte und betrügerische Menschen anzu- sehen, immer noch der andre übrig, jene Subjekte zwar der unmittelbaren Göttlichkeit entkleidet zu lassen, ihnen aber dafür die reine Menschheit ungeschmälert zuzugeste- hen; ihre Thaten zwar nicht als Wunder anzustaunen, ebensowenig aber als Blendwerke zu verschreien, sondern sie für natürliche zwar, aber sittlich untadelhafte Handlun- gen zu erklären. Während der dem kirchlichen Christen- thum überhaupt feindliche Naturalismus zu jener ersteren Auffassungsweise geneigt sein muſste, so war auf die zweite der Rationalismus angewiesen, welcher innerhalb der Kirche verharren wollte. Unmittelbar gegen jenen Naturalismus ist diese Ansicht von Eichhorn gekehrt wor- den in einer Beurtheilung des Wolfenbüttler Fragmenti- sten 1). Eine unmittelbare göttliche Einwirkung, wenig- stens in der A. T. lichen Urgeschichte, nicht anzuerkennen, darin ist Eichhorn mit dem Fragmentisten einverstanden. Die mythologischen Forschungen eines Heyne hatten seinen Gesichtskreis bereits so erweitert, daſs er einsah, wie eine 1) Recension der übrigen, noch ungedruckten Werke des Wol-
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Einleitung. §. 6.
nämlich bei der euemeristischen Auffassung der alten Göt-
terlehre der zwiefache Weg offen stand und auch einge-
schlagen wurde, daſs man die Götter der Volksreligion
entweder als gute und wohlthätige Menschen der Vorzeit,
als weise Gesezgeber und gerechte Fürsten nahm, welche
eine dankbare Mit- und Nachwelt mit dem Glanze göttli-
cher Würde umgeben haben sollte; oder aber in ihnen
schlaue Betrüger und grausame Tyrannen fand, welche
sich, um das Volk sich unterthänig zu machen, in den
Nimbus der Göttlichkeit gehüllt haben: so war auch bei
der rein menschlichen Auffassung der biblischen Geschichte
neben dem von den Deisten betretenen Wege, die Subjekte
derselben für schlechte und betrügerische Menschen anzu-
sehen, immer noch der andre übrig, jene Subjekte zwar
der unmittelbaren Göttlichkeit entkleidet zu lassen, ihnen
aber dafür die reine Menschheit ungeschmälert zuzugeste-
hen; ihre Thaten zwar nicht als Wunder anzustaunen,
ebensowenig aber als Blendwerke zu verschreien, sondern
sie für natürliche zwar, aber sittlich untadelhafte Handlun-
gen zu erklären. Während der dem kirchlichen Christen-
thum überhaupt feindliche Naturalismus zu jener ersteren
Auffassungsweise geneigt sein muſste, so war auf die
zweite der Rationalismus angewiesen, welcher innerhalb
der Kirche verharren wollte. Unmittelbar gegen jenen
Naturalismus ist diese Ansicht von Eichhorn gekehrt wor-
den in einer Beurtheilung des Wolfenbüttler Fragmenti-
sten 1). Eine unmittelbare göttliche Einwirkung, wenig-
stens in der A. T. lichen Urgeschichte, nicht anzuerkennen,
darin ist Eichhorn mit dem Fragmentisten einverstanden.
Die mythologischen Forschungen eines Heyne hatten seinen
Gesichtskreis bereits so erweitert, daſs er einsah, wie eine
1) Recension der übrigen, noch ungedruckten Werke des Wol-
fenbüttler Fragmentisten, in Eichhorns allgemeiner Bibliothek,
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