Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweiter Abschnitt.
Wahre anzusehen sei, und wir müssen daher auch diese
Seite für sich einer Prüfung unterwerfen. Hier nun soll,
was oben gegen die Wahrscheinlichkeit einer so frühen
und bestimmten Überzeugung des Täufers geltend gemacht
worden ist, nicht auch auf eine solche, später in ihm auf-
gestiegene, blosse Vermuthung, ob nicht vielleicht Jesus der
Messias sein möchte, ausgedehnt werden, und es bleibe so-
mit der eigentliche Inhalt der Erzählung unangefochten.
Dagegen ist die Form der Sache, dass der Täufer en to
desmoterio Nachricht von dem Treiben Jesu erhält, aus
demselben Lokale seine Jünger an Jesum abordnet, und
diese ihm, wie vorauszusetzen ist, in das Gefängniss Ant-
wort bringen, nicht ohne einige Bedenklichkeit. Nach Jo-
sephus 36) war Furcht vor Unruhen die Ursache, warum
Herodes den Täufer verhaften liess; sollte diess aber auch
blos Mitursache gewesen sein neben dem, was die Evan-
gelien angeben: so ist doch schwer zu glauben, dass zu ei-
nem Manne, der mit desswegen gefangen gesetzt war,
um durch Entfernung desselben von seinem Anhang Unru-
hen unter diesem zu verhüten, seine Schüler freien Zutritt
behalten haben 37). War also Johannes unter solchen Um-
ständen im Gefängniss, so konnte er nicht wohl so schik-
ken: hat er aber wirklich so geschickt, so muss er damals
noch auf freiem Fuss gewesen sein. Nun findet sich die
Angabe, dass die Sendung aus dem desmoterion erfolgt sei,
nur bei Matthäus: Lukas, der sie auch erzählt, erwähnt
von einem Gefängniss nichts. Man könnte daher mit Schlei-
ermacher
die Darstellung des Lukas in diesem Stück für
die wahre, und das desmoterion bei Matthäus für einen
unhistorischen Zusaz halten. Allein der genannte Kritiker
selbst hat an den müssigen und zum Theil selbst Missver-
stand verrathenden Zusätzen, welche die Erzählung des

36) Antiq. 18, 5, 2.
37) Schleiermacher, über den Lukas, S. 109.

Zweiter Abschnitt.
Wahre anzusehen sei, und wir müssen daher auch diese
Seite für sich einer Prüfung unterwerfen. Hier nun soll,
was oben gegen die Wahrscheinlichkeit einer so frühen
und bestimmten Überzeugung des Täufers geltend gemacht
worden ist, nicht auch auf eine solche, später in ihm auf-
gestiegene, bloſse Vermuthung, ob nicht vielleicht Jesus der
Messias sein möchte, ausgedehnt werden, und es bleibe so-
mit der eigentliche Inhalt der Erzählung unangefochten.
Dagegen ist die Form der Sache, daſs der Täufer ἐν τῳ
δεσμωτηρίῳ Nachricht von dem Treiben Jesu erhält, aus
demselben Lokale seine Jünger an Jesum abordnet, und
diese ihm, wie vorauszusetzen ist, in das Gefängniſs Ant-
wort bringen, nicht ohne einige Bedenklichkeit. Nach Jo-
sephus 36) war Furcht vor Unruhen die Ursache, warum
Herodes den Täufer verhaften lieſs; sollte dieſs aber auch
blos Mitursache gewesen sein neben dem, was die Evan-
gelien angeben: so ist doch schwer zu glauben, daſs zu ei-
nem Manne, der mit deſswegen gefangen gesetzt war,
um durch Entfernung desselben von seinem Anhang Unru-
hen unter diesem zu verhüten, seine Schüler freien Zutritt
behalten haben 37). War also Johannes unter solchen Um-
ständen im Gefängniſs, so konnte er nicht wohl so schik-
ken: hat er aber wirklich so geschickt, so muſs er damals
noch auf freiem Fuſs gewesen sein. Nun findet sich die
Angabe, daſs die Sendung aus dem δεσμωτήριον erfolgt sei,
nur bei Matthäus: Lukas, der sie auch erzählt, erwähnt
von einem Gefängniſs nichts. Man könnte daher mit Schlei-
ermacher
die Darstellung des Lukas in diesem Stück für
die wahre, und das δεσμωτήριον bei Matthäus für einen
unhistorischen Zusaz halten. Allein der genannte Kritiker
selbst hat an den müssigen und zum Theil selbst Miſsver-
stand verrathenden Zusätzen, welche die Erzählung des

36) Antiq. 18, 5, 2.
37) Schleiermacher, über den Lukas, S. 109.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0376" n="352"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
Wahre anzusehen sei, und wir müssen daher auch diese<lb/>
Seite für sich einer Prüfung unterwerfen. Hier nun soll,<lb/>
was oben gegen die Wahrscheinlichkeit einer so frühen<lb/>
und bestimmten Überzeugung des Täufers geltend gemacht<lb/>
worden ist, nicht auch auf eine solche, später in ihm auf-<lb/>
gestiegene, blo&#x017F;se Vermuthung, ob nicht vielleicht Jesus der<lb/>
Messias sein möchte, ausgedehnt werden, und es bleibe so-<lb/>
mit der eigentliche Inhalt der Erzählung unangefochten.<lb/>
Dagegen ist die Form der Sache, da&#x017F;s der Täufer <foreign xml:lang="ell">&#x1F10;&#x03BD; &#x03C4;&#x1FF3;<lb/>
&#x03B4;&#x03B5;&#x03C3;&#x03BC;&#x03C9;&#x03C4;&#x03B7;&#x03C1;&#x03AF;&#x1FF3;</foreign> Nachricht von dem Treiben Jesu erhält, aus<lb/>
demselben Lokale seine Jünger an Jesum abordnet, und<lb/>
diese ihm, wie vorauszusetzen ist, in das Gefängni&#x017F;s Ant-<lb/>
wort bringen, nicht ohne einige Bedenklichkeit. Nach Jo-<lb/>
sephus <note place="foot" n="36)">Antiq. 18, 5, 2.</note> war Furcht vor Unruhen die Ursache, warum<lb/>
Herodes den Täufer verhaften lie&#x017F;s; sollte die&#x017F;s aber auch<lb/>
blos Mitursache gewesen sein neben dem, was die Evan-<lb/>
gelien angeben: so ist doch schwer zu glauben, da&#x017F;s zu ei-<lb/>
nem Manne, der mit de&#x017F;swegen gefangen gesetzt war,<lb/>
um durch Entfernung desselben von seinem Anhang Unru-<lb/>
hen unter diesem zu verhüten, seine Schüler freien Zutritt<lb/>
behalten haben <note place="foot" n="37)"><hi rendition="#k">Schleiermacher</hi>, über den Lukas, S. 109.</note>. War also Johannes unter solchen Um-<lb/>
ständen im Gefängni&#x017F;s, so konnte er nicht wohl so schik-<lb/>
ken: hat er aber wirklich so geschickt, so mu&#x017F;s er damals<lb/>
noch auf freiem Fu&#x017F;s gewesen sein. Nun findet sich die<lb/>
Angabe, da&#x017F;s die Sendung aus dem <foreign xml:lang="ell">&#x03B4;&#x03B5;&#x03C3;&#x03BC;&#x03C9;&#x03C4;&#x03AE;&#x03C1;&#x03B9;&#x03BF;&#x03BD;</foreign> erfolgt sei,<lb/>
nur bei Matthäus: Lukas, der sie auch erzählt, erwähnt<lb/>
von einem Gefängni&#x017F;s nichts. Man könnte daher mit <hi rendition="#k">Schlei-<lb/>
ermacher</hi> die Darstellung des Lukas in diesem Stück für<lb/>
die wahre, und das &#x03B4;&#x03B5;&#x03C3;&#x03BC;&#x03C9;&#x03C4;&#x03AE;&#x03C1;&#x03B9;&#x03BF;&#x03BD; bei Matthäus für einen<lb/>
unhistorischen Zusaz halten. Allein der genannte Kritiker<lb/>
selbst hat an den müssigen und zum Theil selbst Mi&#x017F;sver-<lb/>
stand verrathenden Zusätzen, welche die Erzählung des<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[352/0376] Zweiter Abschnitt. Wahre anzusehen sei, und wir müssen daher auch diese Seite für sich einer Prüfung unterwerfen. Hier nun soll, was oben gegen die Wahrscheinlichkeit einer so frühen und bestimmten Überzeugung des Täufers geltend gemacht worden ist, nicht auch auf eine solche, später in ihm auf- gestiegene, bloſse Vermuthung, ob nicht vielleicht Jesus der Messias sein möchte, ausgedehnt werden, und es bleibe so- mit der eigentliche Inhalt der Erzählung unangefochten. Dagegen ist die Form der Sache, daſs der Täufer ἐν τῳ δεσμωτηρίῳ Nachricht von dem Treiben Jesu erhält, aus demselben Lokale seine Jünger an Jesum abordnet, und diese ihm, wie vorauszusetzen ist, in das Gefängniſs Ant- wort bringen, nicht ohne einige Bedenklichkeit. Nach Jo- sephus 36) war Furcht vor Unruhen die Ursache, warum Herodes den Täufer verhaften lieſs; sollte dieſs aber auch blos Mitursache gewesen sein neben dem, was die Evan- gelien angeben: so ist doch schwer zu glauben, daſs zu ei- nem Manne, der mit deſswegen gefangen gesetzt war, um durch Entfernung desselben von seinem Anhang Unru- hen unter diesem zu verhüten, seine Schüler freien Zutritt behalten haben 37). War also Johannes unter solchen Um- ständen im Gefängniſs, so konnte er nicht wohl so schik- ken: hat er aber wirklich so geschickt, so muſs er damals noch auf freiem Fuſs gewesen sein. Nun findet sich die Angabe, daſs die Sendung aus dem δεσμωτήριον erfolgt sei, nur bei Matthäus: Lukas, der sie auch erzählt, erwähnt von einem Gefängniſs nichts. Man könnte daher mit Schlei- ermacher die Darstellung des Lukas in diesem Stück für die wahre, und das δεσμωτήριον bei Matthäus für einen unhistorischen Zusaz halten. Allein der genannte Kritiker selbst hat an den müssigen und zum Theil selbst Miſsver- stand verrathenden Zusätzen, welche die Erzählung des 36) Antiq. 18, 5, 2. 37) Schleiermacher, über den Lukas, S. 109.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/376
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/376>, abgerufen am 25.11.2024.