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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
ne wie der Täufer eine Ausnahme statuiren zu müssen
glauben könnte: sondern es hängt mit der unverschuldeten
Beschränktheit zusammen, welche, wie schon bemerkt,
jedem niedrigeren Standpunkt im Verhältniss zum höheren
eigen ist und um so hartnäckiger festgehalten wird, je mehr
das auf demselben stehende Individuum, wie der Täufer,
von derber und schroffer Natur ist. Wenn daher neue-
stens gewichtige Stimmen anerkennen, dass in Bezug auf
die Zeichnung des Täufers zwischen den Synoptikern und
Johannes eine auf Rechnung des Lezteren kommende Dif-
ferenz obwalte 32): so bestimmt und verstärkt sich dieses
Urtheil durch das Bisherige dahin, dass uns der vierte
Evangelist den Täufer zu einem ganz andern gemacht hat,
als er bei den Synoptikern und Josephus erscheint: aus ei-
nem praktischen Bussprediger zu einem speculirenden Chri-
stologen, aus einer harten und unbeugsamen Natur zu ei-
nem weichen, resignirenden Charakter.

Auch die Ausmalung der Scenen zwischen Johannes
und Jesus, Joh. 1, 29. ff. 35. ff. zeigt sich theils aus freier
Composition der Phantasie, theils aus verherrlichender Um-
bildung der synoptischen Erzählung entstanden. Was das
Erstere betrifft, so wandelt nach V. 35. Jesus in der Nähe
des Johannes, nach V. 29. kommt er sogar auf ihn zu:
dennoch ist beidemale von einem Zusammentreffen beider
nicht die Rede. Sollte Jesus wirklich dem Zusammenkom-
men mit dem Täufer ausgewichen sein, etwa um, nach
Lampe's Vermuthung, den Schein eines abgeredeten Han-
dels zu vermeiden? Allein diess ist aus ziemlich modernen
Reflexionen heraus gesprochen, welche der Zeit und den
Verhältnissen Jesu fremd waren. Oder hat nur der Er-
zähler das zwischen Jesus und Johannes nach ihrem Zu-
sammentreffen Vorgefallene zufällig oder absichtlich weg-

32) Schulz, die Lehre vom Abendmahl, S. 145 f. Winer, Real-
wörterb. 1, S. 693.

Zweiter Abschnitt.
ne wie der Täufer eine Ausnahme statuiren zu müssen
glauben könnte: sondern es hängt mit der unverschuldeten
Beschränktheit zusammen, welche, wie schon bemerkt,
jedem niedrigeren Standpunkt im Verhältniſs zum höheren
eigen ist und um so hartnäckiger festgehalten wird, je mehr
das auf demselben stehende Individuum, wie der Täufer,
von derber und schroffer Natur ist. Wenn daher neue-
stens gewichtige Stimmen anerkennen, daſs in Bezug auf
die Zeichnung des Täufers zwischen den Synoptikern und
Johannes eine auf Rechnung des Lezteren kommende Dif-
ferenz obwalte 32): so bestimmt und verstärkt sich dieses
Urtheil durch das Bisherige dahin, daſs uns der vierte
Evangelist den Täufer zu einem ganz andern gemacht hat,
als er bei den Synoptikern und Josephus erscheint: aus ei-
nem praktischen Buſsprediger zu einem speculirenden Chri-
stologen, aus einer harten und unbeugsamen Natur zu ei-
nem weichen, resignirenden Charakter.

Auch die Ausmalung der Scenen zwischen Johannes
und Jesus, Joh. 1, 29. ff. 35. ff. zeigt sich theils aus freier
Composition der Phantasie, theils aus verherrlichender Um-
bildung der synoptischen Erzählung entstanden. Was das
Erstere betrifft, so wandelt nach V. 35. Jesus in der Nähe
des Johannes, nach V. 29. kommt er sogar auf ihn zu:
dennoch ist beidemale von einem Zusammentreffen beider
nicht die Rede. Sollte Jesus wirklich dem Zusammenkom-
men mit dem Täufer ausgewichen sein, etwa um, nach
Lampe's Vermuthung, den Schein eines abgeredeten Han-
dels zu vermeiden? Allein dieſs ist aus ziemlich modernen
Reflexionen heraus gesprochen, welche der Zeit und den
Verhältnissen Jesu fremd waren. Oder hat nur der Er-
zähler das zwischen Jesus und Johannes nach ihrem Zu-
sammentreffen Vorgefallene zufällig oder absichtlich weg-

32) Schulz, die Lehre vom Abendmahl, S. 145 f. Winer, Real-
wörterb. 1, S. 693.
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[348/0372] Zweiter Abschnitt. ne wie der Täufer eine Ausnahme statuiren zu müssen glauben könnte: sondern es hängt mit der unverschuldeten Beschränktheit zusammen, welche, wie schon bemerkt, jedem niedrigeren Standpunkt im Verhältniſs zum höheren eigen ist und um so hartnäckiger festgehalten wird, je mehr das auf demselben stehende Individuum, wie der Täufer, von derber und schroffer Natur ist. Wenn daher neue- stens gewichtige Stimmen anerkennen, daſs in Bezug auf die Zeichnung des Täufers zwischen den Synoptikern und Johannes eine auf Rechnung des Lezteren kommende Dif- ferenz obwalte 32): so bestimmt und verstärkt sich dieses Urtheil durch das Bisherige dahin, daſs uns der vierte Evangelist den Täufer zu einem ganz andern gemacht hat, als er bei den Synoptikern und Josephus erscheint: aus ei- nem praktischen Buſsprediger zu einem speculirenden Chri- stologen, aus einer harten und unbeugsamen Natur zu ei- nem weichen, resignirenden Charakter. Auch die Ausmalung der Scenen zwischen Johannes und Jesus, Joh. 1, 29. ff. 35. ff. zeigt sich theils aus freier Composition der Phantasie, theils aus verherrlichender Um- bildung der synoptischen Erzählung entstanden. Was das Erstere betrifft, so wandelt nach V. 35. Jesus in der Nähe des Johannes, nach V. 29. kommt er sogar auf ihn zu: dennoch ist beidemale von einem Zusammentreffen beider nicht die Rede. Sollte Jesus wirklich dem Zusammenkom- men mit dem Täufer ausgewichen sein, etwa um, nach Lampe's Vermuthung, den Schein eines abgeredeten Han- dels zu vermeiden? Allein dieſs ist aus ziemlich modernen Reflexionen heraus gesprochen, welche der Zeit und den Verhältnissen Jesu fremd waren. Oder hat nur der Er- zähler das zwischen Jesus und Johannes nach ihrem Zu- sammentreffen Vorgefallene zufällig oder absichtlich weg- 32) Schulz, die Lehre vom Abendmahl, S. 145 f. Winer, Real- wörterb. 1, S. 693.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/372>, abgerufen am 25.11.2024.