Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Zweiter Abschnitt. Existenz und himmlische Abkunft des Messias, mit derFrage, ob der Täufer wohl solche Ansichten gehabt haben könne? Dass aus den Worten Joh. 1, 15. 27. 30: o opiso mou erkhomenos emprosthen mou gegonen, oti protos mou en nur dogmatische Willkühr den Präexistenzbegriff verbannen könne, zeigt der blosse Anblick von Erklärungen, wie die Paulus'sche: der in der Zeitfolge nach mir Gekommene ist doch vor meinen Augen (emprosthen mou) so geworden, dass er (oti = ose, Grund = Folge!) dem Range und der Sache nach der erste zu heissen verdient 15). Mit über- wiegenden Gründen haben sich vorurtheilsfreiere Ausleger dahin erklärt, es werde hier dafür, dass der in der Zeit- folge nach Johannes erschienene Jesus doch der Würde nach ihm voranstehe (emprosthen), seine Präexistenz vor dem Täufer (protos mou en) als Grund angegeben 16). Offenbar also haben wir hier das johanneische Dogma von der ewi- gen Präexistenz des logos, wie es freilich dem Verfasser des Evangeliums präsent war, zumal er eben von seinem Prologe herkam: ob aber auch dem Täufer? das ist eine andre Frage. So viel giebt der neueste Ausleger des vier- ten Evangeliums zu, dass der Sinn, in welchem der Evan- gelist das protos mou nimmt, dem Täufer auf seinem Stand- punkt ziemlich fern und fremd gewesen sein möge. Doch nur insofern, meint er, als der Täufer nicht wie der Evan- gelist den Begriff des logos mit jenen Worten verbunden, sondern mehr auf populär jüdische Weise an die Präexi- stenz des Messias, als Subjekts der A. T.lichen Theopha- nieen u. s. w. gedacht habe 17). Von dieser jüdischen An- sicht finden sich allerdings auch ausser den Schriften des vierten Evangelisten noch Spuren bei Paulus (z. B. 1. Kor. 15) Paulus, Leben Jesu, 2, a, die Übers. S. 29. 31. 16) Tholuck, Comm. zum Ev. Johannis, 2te Ausg. S. 49 f. Lücke Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 311 ff. 17) Lücke, a. a. O.
Zweiter Abschnitt. Existenz und himmlische Abkunft des Messias, mit derFrage, ob der Täufer wohl solche Ansichten gehabt haben könne? Daſs aus den Worten Joh. 1, 15. 27. 30: ὁ ὀπίσω μου ἐρχόμενος ἔμπροσϑέν μου γέγονεν, ὅτι πρῶτός μου ἦν nur dogmatische Willkühr den Präexistenzbegriff verbannen könne, zeigt der bloſse Anblick von Erklärungen, wie die Paulus'sche: der in der Zeitfolge nach mir Gekommene ist doch vor meinen Augen (ἔμπροσϑέν μου) so geworden, daſs er (ὅτι = ὥςε, Grund = Folge!) dem Range und der Sache nach der erste zu heiſsen verdient 15). Mit über- wiegenden Gründen haben sich vorurtheilsfreiere Ausleger dahin erklärt, es werde hier dafür, daſs der in der Zeit- folge nach Johannes erschienene Jesus doch der Würde nach ihm voranstehe (ἔμπροσϑεν), seine Präexistenz vor dem Täufer (πρῶτός μου ἦν) als Grund angegeben 16). Offenbar also haben wir hier das johanneische Dogma von der ewi- gen Präexistenz des λόγος, wie es freilich dem Verfasser des Evangeliums präsent war, zumal er eben von seinem Prologe herkam: ob aber auch dem Täufer? das ist eine andre Frage. So viel giebt der neueste Ausleger des vier- ten Evangeliums zu, daſs der Sinn, in welchem der Evan- gelist das πρῶτός μου nimmt, dem Täufer auf seinem Stand- punkt ziemlich fern und fremd gewesen sein möge. Doch nur insofern, meint er, als der Täufer nicht wie der Evan- gelist den Begriff des λόγος mit jenen Worten verbunden, sondern mehr auf populär jüdische Weise an die Präexi- stenz des Messias, als Subjekts der A. T.lichen Theopha- nieen u. s. w. gedacht habe 17). Von dieser jüdischen An- sicht finden sich allerdings auch ausser den Schriften des vierten Evangelisten noch Spuren bei Paulus (z. B. 1. Kor. 15) Paulus, Leben Jesu, 2, a, die Übers. S. 29. 31. 16) Tholuck, Comm. zum Ev. Johannis, 2te Ausg. S. 49 f. Lücke Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 311 ff. 17) Lücke, a. a. O.
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Zweiter Abschnitt.
Existenz und himmlische Abkunft des Messias, mit der
Frage, ob der Täufer wohl solche Ansichten gehabt haben
könne? Daſs aus den Worten Joh. 1, 15. 27. 30: ὁ ὀπίσω
μου ἐρχόμενος ἔμπροσϑέν μου γέγονεν, ὅτι πρῶτός μου ἦν nur
dogmatische Willkühr den Präexistenzbegriff verbannen
könne, zeigt der bloſse Anblick von Erklärungen, wie die
Paulus'sche: der in der Zeitfolge nach mir Gekommene
ist doch vor meinen Augen (ἔμπροσϑέν μου) so geworden,
daſs er (ὅτι = ὥςε, Grund = Folge!) dem Range und der
Sache nach der erste zu heiſsen verdient 15). Mit über-
wiegenden Gründen haben sich vorurtheilsfreiere Ausleger
dahin erklärt, es werde hier dafür, daſs der in der Zeit-
folge nach Johannes erschienene Jesus doch der Würde
nach ihm voranstehe (ἔμπροσϑεν), seine Präexistenz vor dem
Täufer (πρῶτός μου ἦν) als Grund angegeben 16). Offenbar
also haben wir hier das johanneische Dogma von der ewi-
gen Präexistenz des λόγος, wie es freilich dem Verfasser
des Evangeliums präsent war, zumal er eben von seinem
Prologe herkam: ob aber auch dem Täufer? das ist eine
andre Frage. So viel giebt der neueste Ausleger des vier-
ten Evangeliums zu, daſs der Sinn, in welchem der Evan-
gelist das πρῶτός μου nimmt, dem Täufer auf seinem Stand-
punkt ziemlich fern und fremd gewesen sein möge. Doch
nur insofern, meint er, als der Täufer nicht wie der Evan-
gelist den Begriff des λόγος mit jenen Worten verbunden,
sondern mehr auf populär jüdische Weise an die Präexi-
stenz des Messias, als Subjekts der A. T.lichen Theopha-
nieen u. s. w. gedacht habe 17). Von dieser jüdischen An-
sicht finden sich allerdings auch ausser den Schriften des
vierten Evangelisten noch Spuren bei Paulus (z. B. 1. Kor.
15) Paulus, Leben Jesu, 2, a, die Übers. S. 29. 31.
16) Tholuck, Comm. zum Ev. Johannis, 2te Ausg. S. 49 f. Lücke
Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 311 ff.
17) Lücke, a. a. O.
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