Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Fünftes Kapitel. §. 37. den konnte. In dieser lezteren Bemerkung stimmt Hey-denreich mit Schleiermacher zusammen, welcher ebenfalls in dem leicht missdeutbaren Benehmen Jesu gegen seine Mutter eine sichere Bürgschaft findet, dass nicht etwa die ganze Geschichte erdichtet sei, um auch etwas Merkwür- diges von Jesu zu haben aus diesem Zeitpunkt, wo ihm zuerst die Heiligthümer des Tempels und Gesetzes aufge- schlossen wurden 11). -- Hier brauchen wir uns gegen die Behauptung, dass ein fingirender Erzähler Jesu einen sol- chen Zug scheinbarer Härte gegen seine Mutter schwerlich angedichtet haben würde, nicht auf das apokryphische Evangelium Thomae zu berufen, welches den Knaben Jesus zu seinem Pflegevater Joseph sagen lässt: insipien- tissime fecisti 12), da selbst in der kanonischen Evangelien- Sage oder Geschichte entsprechende Züge sich vorfinden. In der Erzählung von der Hochzeit zu Kana findet sich die harte Anrede Jesu an seine Mutter: ti emoi kai soi g[u]n[ai] (Joh. 2, 4.); in der Geschichte von dem Besuch seiner Mutter und Brüder bei Jesu das Auffallende, dass er von diesen Blutsverwandten gar keine Notiz nehmen zu wollen scheint (Matth. 12, 46. ff.). Sind diess wirkliche Begebenheiten: so war ja durch sie die Sage historisch veranlasst, einen ähnlichen Zug auch schon in die erste Jugend Jesu zurückzutragen; sind es aber selbst nur Sa- gen: so sind sie ja der lebendigste Beweis, dass es zur Erdichtung solcher Züge an Veranlassung nicht gefehlt hat. Worin diese Veranlassung lag, ist leicht zu sehen. Aus dem obscuren Hintergrunde seiner beschränkten Familien- verhältnisse hob sich die Gestalt Jesu um so glänzender hervor, wenn es sich recht oft zeigte, wie wenig selbst sei- ne Eltern im Stande waren, seinen hohen Geist zu fassen, 11) Über den Lukas, S. 39 f. 12) Cap. 5: Auch im griechischen Text ist die wahrscheinlichere
Lesart: kai malisa ou suphos, s. Thilo, S. 287. Fünftes Kapitel. §. 37. den konnte. In dieser lezteren Bemerkung stimmt Hey-denreich mit Schleiermacher zusammen, welcher ebenfalls in dem leicht miſsdeutbaren Benehmen Jesu gegen seine Mutter eine sichere Bürgschaft findet, daſs nicht etwa die ganze Geschichte erdichtet sei, um auch etwas Merkwür- diges von Jesu zu haben aus diesem Zeitpunkt, wo ihm zuerst die Heiligthümer des Tempels und Gesetzes aufge- schlossen wurden 11). — Hier brauchen wir uns gegen die Behauptung, daſs ein fingirender Erzähler Jesu einen sol- chen Zug scheinbarer Härte gegen seine Mutter schwerlich angedichtet haben würde, nicht auf das apokryphische Evangelium Thomae zu berufen, welches den Knaben Jesus zu seinem Pflegevater Joseph sagen läſst: insipien- tissime fecisti 12), da selbst in der kanonischen Evangelien- Sage oder Geschichte entsprechende Züge sich vorfinden. In der Erzählung von der Hochzeit zu Kana findet sich die harte Anrede Jesu an seine Mutter: τί ἐμοὶ καὶ σοὶ γ[ύ]ν[αι] (Joh. 2, 4.); in der Geschichte von dem Besuch seiner Mutter und Brüder bei Jesu das Auffallende, daſs er von diesen Blutsverwandten gar keine Notiz nehmen zu wollen scheint (Matth. 12, 46. ff.). Sind dieſs wirkliche Begebenheiten: so war ja durch sie die Sage historisch veranlaſst, einen ähnlichen Zug auch schon in die erste Jugend Jesu zurückzutragen; sind es aber selbst nur Sa- gen: so sind sie ja der lebendigste Beweis, daſs es zur Erdichtung solcher Züge an Veranlassung nicht gefehlt hat. Worin diese Veranlassung lag, ist leicht zu sehen. Aus dem obscuren Hintergrunde seiner beschränkten Familien- verhältnisse hob sich die Gestalt Jesu um so glänzender hervor, wenn es sich recht oft zeigte, wie wenig selbst sei- ne Eltern im Stande waren, seinen hohen Geist zu fassen, 11) Über den Lukas, S. 39 f. 12) Cap. 5: Auch im griechischen Text ist die wahrscheinlichere
Lesart: καὶ μάλιςα οὐ συφῶς, s. Thilo, S. 287. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0317" n="293"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Fünftes Kapitel</hi>. §. 37.</fw><lb/> den konnte. In dieser lezteren Bemerkung stimmt <hi rendition="#k">Hey-<lb/> denreich</hi> mit <hi rendition="#k">Schleiermacher</hi> zusammen, welcher ebenfalls<lb/> in dem leicht miſsdeutbaren Benehmen Jesu gegen seine<lb/> Mutter eine sichere Bürgschaft findet, daſs nicht etwa die<lb/> ganze Geschichte erdichtet sei, um auch etwas Merkwür-<lb/> diges von Jesu zu haben aus diesem Zeitpunkt, wo ihm<lb/> zuerst die Heiligthümer des Tempels und Gesetzes aufge-<lb/> schlossen wurden <note place="foot" n="11)">Über den Lukas, S. 39 f.</note>. — Hier brauchen wir uns gegen die<lb/> Behauptung, daſs ein fingirender Erzähler Jesu einen sol-<lb/> chen Zug scheinbarer Härte gegen seine Mutter schwerlich<lb/> angedichtet haben würde, nicht auf das apokryphische<lb/><hi rendition="#i">Evangelium Thomae</hi> zu berufen, welches den Knaben<lb/> Jesus zu seinem Pflegevater Joseph sagen läſst: <hi rendition="#i">insipien-<lb/> tissime fecisti</hi> <note place="foot" n="12)">Cap. 5: Auch im griechischen Text ist die wahrscheinlichere<lb/> Lesart: <foreign xml:lang="ell">καὶ μάλιςα οὐ συφῶς</foreign>, s. <hi rendition="#k">Thilo</hi>, S. 287.</note>, da selbst in der kanonischen Evangelien-<lb/> Sage oder Geschichte entsprechende Züge sich vorfinden.<lb/> In der Erzählung von der Hochzeit zu Kana findet sich<lb/> die harte Anrede Jesu an seine Mutter: τί ἐμοὶ καὶ σοὶ<lb/><hi rendition="#g">γ<supplied>ύ</supplied>ν<supplied>αι</supplied></hi> (Joh. 2, 4.); in der Geschichte von dem Besuch<lb/> seiner Mutter und Brüder bei Jesu das Auffallende, daſs<lb/> er von diesen Blutsverwandten gar keine Notiz nehmen zu<lb/> wollen scheint (Matth. 12, 46. ff.). Sind dieſs wirkliche<lb/> Begebenheiten: so war ja durch sie die Sage historisch<lb/> veranlaſst, einen ähnlichen Zug auch schon in die erste<lb/> Jugend Jesu zurückzutragen; sind es aber selbst nur Sa-<lb/> gen: so sind sie ja der lebendigste Beweis, daſs es zur<lb/> Erdichtung solcher Züge an Veranlassung nicht gefehlt hat.<lb/> Worin diese Veranlassung lag, ist leicht zu sehen. Aus<lb/> dem obscuren Hintergrunde seiner beschränkten Familien-<lb/> verhältnisse hob sich die Gestalt Jesu um so glänzender<lb/> hervor, wenn es sich recht oft zeigte, wie wenig selbst sei-<lb/> ne Eltern im Stande waren, seinen hohen Geist zu fassen,<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [293/0317]
Fünftes Kapitel. §. 37.
den konnte. In dieser lezteren Bemerkung stimmt Hey-
denreich mit Schleiermacher zusammen, welcher ebenfalls
in dem leicht miſsdeutbaren Benehmen Jesu gegen seine
Mutter eine sichere Bürgschaft findet, daſs nicht etwa die
ganze Geschichte erdichtet sei, um auch etwas Merkwür-
diges von Jesu zu haben aus diesem Zeitpunkt, wo ihm
zuerst die Heiligthümer des Tempels und Gesetzes aufge-
schlossen wurden 11). — Hier brauchen wir uns gegen die
Behauptung, daſs ein fingirender Erzähler Jesu einen sol-
chen Zug scheinbarer Härte gegen seine Mutter schwerlich
angedichtet haben würde, nicht auf das apokryphische
Evangelium Thomae zu berufen, welches den Knaben
Jesus zu seinem Pflegevater Joseph sagen läſst: insipien-
tissime fecisti 12), da selbst in der kanonischen Evangelien-
Sage oder Geschichte entsprechende Züge sich vorfinden.
In der Erzählung von der Hochzeit zu Kana findet sich
die harte Anrede Jesu an seine Mutter: τί ἐμοὶ καὶ σοὶ
γύναι (Joh. 2, 4.); in der Geschichte von dem Besuch
seiner Mutter und Brüder bei Jesu das Auffallende, daſs
er von diesen Blutsverwandten gar keine Notiz nehmen zu
wollen scheint (Matth. 12, 46. ff.). Sind dieſs wirkliche
Begebenheiten: so war ja durch sie die Sage historisch
veranlaſst, einen ähnlichen Zug auch schon in die erste
Jugend Jesu zurückzutragen; sind es aber selbst nur Sa-
gen: so sind sie ja der lebendigste Beweis, daſs es zur
Erdichtung solcher Züge an Veranlassung nicht gefehlt hat.
Worin diese Veranlassung lag, ist leicht zu sehen. Aus
dem obscuren Hintergrunde seiner beschränkten Familien-
verhältnisse hob sich die Gestalt Jesu um so glänzender
hervor, wenn es sich recht oft zeigte, wie wenig selbst sei-
ne Eltern im Stande waren, seinen hohen Geist zu fassen,
11) Über den Lukas, S. 39 f.
12) Cap. 5: Auch im griechischen Text ist die wahrscheinlichere
Lesart: καὶ μάλιςα οὐ συφῶς, s. Thilo, S. 287.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |