Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Erster Abschnitt.
ders, als, der Sage folgend, auch diesen Entwicklungskno-
ten so verzieren, wie wir es in seiner Erzählung finden,
und wie könnten wir anders, als seine Erzählung für eine
sagenhafte Ausschmückung jenes Entwicklungspunktes im
Leben Jesu halten 8), durch welche wir von dessen wirk-
licher Entwicklung wieder nichts 9), sondern nur von
der hohen Meinung etwas erfahren, die man in der ersten
Gemeinde von dem frühreifen Geiste Jesu hatte.

Wie nun aber gerade diese Erzählung unter die My-
then gerechnet werden könne, findet man besonders unbe-
greiflich. Trage sie doch, meint Heydenreich 10), einen
rein historischen Charakter (das ist eben erst zu bewei-
sen), und das Gepräge der höchsten Einfachheit (wie jede
Volkssage in ihrer ursprünglichen Gestalt); sie enthalte
gar nichts Wunderbares, worin doch der Hauptcharakter
eines Mythus (aber keineswegs eines jeden) bestehen solle;
sie sei so entfernt von aller Ausschmückung, dass die Ge-
spräche Jesu mit den Lehrern gar nicht ausgeführt seien
(es genügte der Sage der anschauliche Zug kathezomenon en
meso ton dida kalon, als Diktum war nur das V. 49.
wichtig, zu welchem daher ohne Aufenthalt hingeeilt wird),
ja dass selbst die zwischen ihm und seiner Mutter gewech-
selten Reden nur fragmentarisch und aphoristisch gegeben
seien (keine Spur einer Lücke); endlich hätte ein Erdich-
ter Jesum anders mit seiner Mutter sprechen lassen, und
ihm nichts in den Mund gelegt, was als Beweis der Un-
ehrerbietigkeit oder Gleichgültigkeit gegen sie ausgelegt wer-

8) Diese Einsicht hat Kaiser, bibl. Theol. 1, 234.
9) Also auch davon nichts, was Hase (Leben Jesu §. 33.) darin
finden will, diese Erzählung, indem sie dieselbe Gottesnähe
zeige, welche die Idee des späteren Lebens Jesu war, sei
eine Andeutung davon, dass seine spätere Herrlichkeit nicht
früheren Verirrungen abgerungen, sondern ununterbrochene
Entwicklung seiner Freiheit gewesen sei.
10) Über die Unzulässigkeit u. s. f. 1, S. 92.

Erster Abschnitt.
ders, als, der Sage folgend, auch diesen Entwicklungskno-
ten so verzieren, wie wir es in seiner Erzählung finden,
und wie könnten wir anders, als seine Erzählung für eine
sagenhafte Ausschmückung jenes Entwicklungspunktes im
Leben Jesu halten 8), durch welche wir von dessen wirk-
licher Entwicklung wieder nichts 9), sondern nur von
der hohen Meinung etwas erfahren, die man in der ersten
Gemeinde von dem frühreifen Geiste Jesu hatte.

Wie nun aber gerade diese Erzählung unter die My-
then gerechnet werden könne, findet man besonders unbe-
greiflich. Trage sie doch, meint Heydenreich 10), einen
rein historischen Charakter (das ist eben erst zu bewei-
sen), und das Gepräge der höchsten Einfachheit (wie jede
Volkssage in ihrer ursprünglichen Gestalt); sie enthalte
gar nichts Wunderbares, worin doch der Hauptcharakter
eines Mythus (aber keineswegs eines jeden) bestehen solle;
sie sei so entfernt von aller Ausschmückung, daſs die Ge-
spräche Jesu mit den Lehrern gar nicht ausgeführt seien
(es genügte der Sage der anschauliche Zug καϑεζομένον ἐν
μέσῳ τῶν διδα κάλων, als Diktum war nur das V. 49.
wichtig, zu welchem daher ohne Aufenthalt hingeeilt wird),
ja daſs selbst die zwischen ihm und seiner Mutter gewech-
selten Reden nur fragmentarisch und aphoristisch gegeben
seien (keine Spur einer Lücke); endlich hätte ein Erdich-
ter Jesum anders mit seiner Mutter sprechen lassen, und
ihm nichts in den Mund gelegt, was als Beweis der Un-
ehrerbietigkeit oder Gleichgültigkeit gegen sie ausgelegt wer-

8) Diese Einsicht hat Kaiser, bibl. Theol. 1, 234.
9) Also auch davon nichts, was Hase (Leben Jesu §. 33.) darin
finden will, diese Erzählung, indem sie dieselbe Gottesnähe
zeige, welche die Idee des späteren Lebens Jesu war, sei
eine Andeutung davon, dass seine spätere Herrlichkeit nicht
früheren Verirrungen abgerungen, sondern ununterbrochene
Entwicklung seiner Freiheit gewesen sei.
10) Über die Unzulässigkeit u. s. f. 1, S. 92.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0316" n="292"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Erster Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
ders, als, der Sage folgend, auch diesen Entwicklungskno-<lb/>
ten so verzieren, wie wir es in seiner Erzählung finden,<lb/>
und wie könnten wir anders, als seine Erzählung für eine<lb/>
sagenhafte Ausschmückung jenes Entwicklungspunktes im<lb/>
Leben Jesu halten <note place="foot" n="8)">Diese Einsicht hat <hi rendition="#k">Kaiser</hi>, bibl. Theol. 1, 234.</note>, durch welche wir von dessen wirk-<lb/>
licher Entwicklung wieder nichts <note place="foot" n="9)">Also auch davon nichts, was <hi rendition="#k">Hase</hi> (Leben Jesu §. 33.) darin<lb/>
finden will, diese Erzählung, indem sie dieselbe Gottesnähe<lb/>
zeige, welche die Idee des späteren Lebens Jesu war, sei<lb/>
eine Andeutung davon, dass seine spätere Herrlichkeit nicht<lb/>
früheren Verirrungen abgerungen, sondern ununterbrochene<lb/>
Entwicklung seiner Freiheit gewesen sei.</note>, sondern nur von<lb/>
der hohen Meinung etwas erfahren, die man in der ersten<lb/>
Gemeinde von dem frühreifen Geiste Jesu hatte.</p><lb/>
            <p>Wie nun aber gerade diese Erzählung unter die My-<lb/>
then gerechnet werden könne, findet man besonders unbe-<lb/>
greiflich. Trage sie doch, meint <hi rendition="#k">Heydenreich</hi> <note place="foot" n="10)">Über die Unzulässigkeit u. s. f. 1, S. 92.</note>, einen<lb/>
rein historischen Charakter (das ist eben erst zu bewei-<lb/>
sen), und das Gepräge der höchsten Einfachheit (wie jede<lb/>
Volkssage in ihrer ursprünglichen Gestalt); sie enthalte<lb/>
gar nichts Wunderbares, worin doch der Hauptcharakter<lb/>
eines Mythus (aber keineswegs eines jeden) bestehen solle;<lb/>
sie sei so entfernt von aller Ausschmückung, da&#x017F;s die Ge-<lb/>
spräche Jesu mit den Lehrern gar nicht ausgeführt seien<lb/>
(es genügte der Sage der anschauliche Zug <foreign xml:lang="ell">&#x03BA;&#x03B1;&#x03D1;&#x03B5;&#x03B6;&#x03BF;&#x03BC;&#x03AD;&#x03BD;&#x03BF;&#x03BD; &#x1F10;&#x03BD;<lb/>
&#x03BC;&#x03AD;&#x03C3;&#x1FF3; &#x03C4;&#x1FF6;&#x03BD; &#x03B4;&#x03B9;&#x03B4;&#x03B1; &#x03BA;&#x03AC;&#x03BB;&#x03C9;&#x03BD;</foreign>, als Diktum war nur das V. 49.<lb/>
wichtig, zu welchem daher ohne Aufenthalt hingeeilt wird),<lb/>
ja da&#x017F;s selbst die zwischen ihm und seiner Mutter gewech-<lb/>
selten Reden nur fragmentarisch und aphoristisch gegeben<lb/>
seien (keine Spur einer Lücke); endlich hätte ein Erdich-<lb/>
ter Jesum anders mit seiner Mutter sprechen lassen, und<lb/>
ihm nichts in den Mund gelegt, was als Beweis der Un-<lb/>
ehrerbietigkeit oder Gleichgültigkeit gegen sie ausgelegt wer-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[292/0316] Erster Abschnitt. ders, als, der Sage folgend, auch diesen Entwicklungskno- ten so verzieren, wie wir es in seiner Erzählung finden, und wie könnten wir anders, als seine Erzählung für eine sagenhafte Ausschmückung jenes Entwicklungspunktes im Leben Jesu halten 8), durch welche wir von dessen wirk- licher Entwicklung wieder nichts 9), sondern nur von der hohen Meinung etwas erfahren, die man in der ersten Gemeinde von dem frühreifen Geiste Jesu hatte. Wie nun aber gerade diese Erzählung unter die My- then gerechnet werden könne, findet man besonders unbe- greiflich. Trage sie doch, meint Heydenreich 10), einen rein historischen Charakter (das ist eben erst zu bewei- sen), und das Gepräge der höchsten Einfachheit (wie jede Volkssage in ihrer ursprünglichen Gestalt); sie enthalte gar nichts Wunderbares, worin doch der Hauptcharakter eines Mythus (aber keineswegs eines jeden) bestehen solle; sie sei so entfernt von aller Ausschmückung, daſs die Ge- spräche Jesu mit den Lehrern gar nicht ausgeführt seien (es genügte der Sage der anschauliche Zug καϑεζομένον ἐν μέσῳ τῶν διδα κάλων, als Diktum war nur das V. 49. wichtig, zu welchem daher ohne Aufenthalt hingeeilt wird), ja daſs selbst die zwischen ihm und seiner Mutter gewech- selten Reden nur fragmentarisch und aphoristisch gegeben seien (keine Spur einer Lücke); endlich hätte ein Erdich- ter Jesum anders mit seiner Mutter sprechen lassen, und ihm nichts in den Mund gelegt, was als Beweis der Un- ehrerbietigkeit oder Gleichgültigkeit gegen sie ausgelegt wer- 8) Diese Einsicht hat Kaiser, bibl. Theol. 1, 234. 9) Also auch davon nichts, was Hase (Leben Jesu §. 33.) darin finden will, diese Erzählung, indem sie dieselbe Gottesnähe zeige, welche die Idee des späteren Lebens Jesu war, sei eine Andeutung davon, dass seine spätere Herrlichkeit nicht früheren Verirrungen abgerungen, sondern ununterbrochene Entwicklung seiner Freiheit gewesen sei. 10) Über die Unzulässigkeit u. s. f. 1, S. 92.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/316
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/316>, abgerufen am 24.11.2024.