Begabung des Individuums ankommt, möglicherweise sehr frühe aufgehen kann: so ist doch eine objektive Bestim- mung, in welcher die Verhältnisse der gegenständlichen Wirklichkeit einen Hauptfaktor ausmachen, wie die Be- stimmung zum Staatsmann, zum Feldherrn, zum Refor- mator einer Religion, schwerlich auch dem begabtesten In- dividuum jemals so frühe klar geworden, weil dazu eine Kenntniss der gegebenen Verhältnisse erforderlich ist, wel- che nur eine längere Beobachtung und reifere Erfahrung gewähren kann. Eben zu der lezteren Art aber gehört auch die Bestimmung zum Messias, und wenn diese in den Worten liegt, mit welchen Jesus im zwölften Jahre seinen Aufenthalt im Tempel gerechtfertigt haben soll: so kann er diese Worte damals gar nicht gesprochen haben.
Merkwürdig auch in anderer Beziehung ist es, dass (V. 50.) von Jesu Eltern gesagt wird, sie haben das Wort nicht verstanden, welches Jesus zu ihnen gesprochen hatte. Er hatte aber Gott seinen Vater genannt, in dessen Hause er sein müsse. Dass nun ihr Sohn in specifischem Sinne ein uios theou genannt werden würde, diess war der Maria schon durch den verkündigenden Engel zu wissen gethan (Luc. 1, 32. 35.), und dass er eine besondere Beziehung zum Tempel haben würde, diess konnten sie theils eben hieraus, theils aus dem glänzenden Empfange abnehmen, welchen er noch als Kind bei seiner ersten Darstellung im Tempel erfahren hatte. Die Eltern Jesu, oder wenigstens Maria, von welcher wiederholt gerühmt wird, dass sie die ausserordentlichen Eröffnungen über ihren Sohn sorgfältig im Herzen bewahrt habe, sollten also über seine damalige Rede keinen Augenblick im Dunkeln geblieben sein. Aber auch schon bei jener Darstellung im Tempel hiess es, dass sich die Eltern Jesu über die Reden Simeons gewundert (V. 33.), sie also wohl nicht recht verstanden haben. Und zwar war diess nicht von jenem Ausspruch Simeons be- merkt, dass ihr Knabe nicht allein eis anasasin, sondern
Erster Abschnitt.
Begabung des Individuums ankommt, möglicherweise sehr frühe aufgehen kann: so ist doch eine objektive Bestim- mung, in welcher die Verhältnisse der gegenständlichen Wirklichkeit einen Hauptfaktor ausmachen, wie die Be- stimmung zum Staatsmann, zum Feldherrn, zum Refor- mator einer Religion, schwerlich auch dem begabtesten In- dividuum jemals so frühe klar geworden, weil dazu eine Kenntniſs der gegebenen Verhältnisse erforderlich ist, wel- che nur eine längere Beobachtung und reifere Erfahrung gewähren kann. Eben zu der lezteren Art aber gehört auch die Bestimmung zum Messias, und wenn diese in den Worten liegt, mit welchen Jesus im zwölften Jahre seinen Aufenthalt im Tempel gerechtfertigt haben soll: so kann er diese Worte damals gar nicht gesprochen haben.
Merkwürdig auch in anderer Beziehung ist es, daſs (V. 50.) von Jesu Eltern gesagt wird, sie haben das Wort nicht verstanden, welches Jesus zu ihnen gesprochen hatte. Er hatte aber Gott seinen Vater genannt, in dessen Hause er sein müsse. Daſs nun ihr Sohn in specifischem Sinne ein υίὸς ϑεοῦ genannt werden würde, dieſs war der Maria schon durch den verkündigenden Engel zu wissen gethan (Luc. 1, 32. 35.), und daſs er eine besondere Beziehung zum Tempel haben würde, dieſs konnten sie theils eben hieraus, theils aus dem glänzenden Empfange abnehmen, welchen er noch als Kind bei seiner ersten Darstellung im Tempel erfahren hatte. Die Eltern Jesu, oder wenigstens Maria, von welcher wiederholt gerühmt wird, daſs sie die ausserordentlichen Eröffnungen über ihren Sohn sorgfältig im Herzen bewahrt habe, sollten also über seine damalige Rede keinen Augenblick im Dunkeln geblieben sein. Aber auch schon bei jener Darstellung im Tempel hieſs es, daſs sich die Eltern Jesu über die Reden Simeons gewundert (V. 33.), sie also wohl nicht recht verstanden haben. Und zwar war dieſs nicht von jenem Ausspruch Simeons be- merkt, daſs ihr Knabe nicht allein εἰς ἀνάςασιν, sondern
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Erster Abschnitt.
Begabung des Individuums ankommt, möglicherweise sehr
frühe aufgehen kann: so ist doch eine objektive Bestim-
mung, in welcher die Verhältnisse der gegenständlichen
Wirklichkeit einen Hauptfaktor ausmachen, wie die Be-
stimmung zum Staatsmann, zum Feldherrn, zum Refor-
mator einer Religion, schwerlich auch dem begabtesten In-
dividuum jemals so frühe klar geworden, weil dazu eine
Kenntniſs der gegebenen Verhältnisse erforderlich ist, wel-
che nur eine längere Beobachtung und reifere Erfahrung
gewähren kann. Eben zu der lezteren Art aber gehört
auch die Bestimmung zum Messias, und wenn diese in den
Worten liegt, mit welchen Jesus im zwölften Jahre seinen
Aufenthalt im Tempel gerechtfertigt haben soll: so kann
er diese Worte damals gar nicht gesprochen haben.
Merkwürdig auch in anderer Beziehung ist es, daſs
(V. 50.) von Jesu Eltern gesagt wird, sie haben das Wort
nicht verstanden, welches Jesus zu ihnen gesprochen hatte.
Er hatte aber Gott seinen Vater genannt, in dessen Hause
er sein müsse. Daſs nun ihr Sohn in specifischem Sinne
ein υίὸς ϑεοῦ genannt werden würde, dieſs war der Maria
schon durch den verkündigenden Engel zu wissen gethan
(Luc. 1, 32. 35.), und daſs er eine besondere Beziehung
zum Tempel haben würde, dieſs konnten sie theils eben
hieraus, theils aus dem glänzenden Empfange abnehmen,
welchen er noch als Kind bei seiner ersten Darstellung im
Tempel erfahren hatte. Die Eltern Jesu, oder wenigstens
Maria, von welcher wiederholt gerühmt wird, daſs sie die
ausserordentlichen Eröffnungen über ihren Sohn sorgfältig
im Herzen bewahrt habe, sollten also über seine damalige
Rede keinen Augenblick im Dunkeln geblieben sein. Aber
auch schon bei jener Darstellung im Tempel hieſs es, daſs
sich die Eltern Jesu über die Reden Simeons gewundert
(V. 33.), sie also wohl nicht recht verstanden haben. Und
zwar war dieſs nicht von jenem Ausspruch Simeons be-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/310>, abgerufen am 28.11.2024.
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