deuten wissen. Beide Theile werden nach Bethlehem ge- wiesen: die Hirten durch die Worte des Engels selbst; die Magier nach eingezogener Erkundigung in Jerusalem, und beide huldigen dem Kinde: die Hirten durch Lobgesänge, die sie anstimmen, die Magier durch kostbare Geschenke aus ihrer orientalischen Heimath. Aber von hier an begin- nen die beiden Erzählungen bedeutender zu divergiren. Bei Lukas geht Alles heiter aus: die Hirten kehren freu- dig wieder um, und dem Kinde geschieht kein Leid, son- dern es kann zur gehörigen Zeit im Tempel dargestellt werden, und wächst sofort im Frieden auf; bei Matthäus hingegen nimmt die Sache eine tragische Wendung: da veranlasst die Nachfrage der Magier in Jerusalem nach dem neugeborenen Judenkönig einen Mordbefehl des He- rodes gegen die Kinder zu Bethlehem, welchem das Je- suskind nur durch schleunige Flucht in das benachbarte Ägypten entzogen wird, von wo es mit den Eltern erst nach des Herodes Tode wieder in das heilige Land zu- rückkehrt.
Wir haben also hier eine doppelte Introduktion des messianischen Kindes, welche wir so stellen könnten, dass die eine, durch den Engel, bei Lukas, die Geburt des Messias der nächsten Nähe, die andre, durch den Stern, bei Matthäus, der weiten Ferne habe ankündigen sollen. Allein, da nach Matthäus die Geburt Jesu erst durch den Stern auch in der nächsten Nähe, in Jerusalem, bekannt wird: so kann, wenn diese Erzählung historisch ist, jene andre bei Lukas, nach welcher die Hirten, was ihnen als Sache des ganzen Volks verkündigt war (V. 10.), mit Preiss gegen Gott weiter erzählten (V. 17. 20.), unmög- lich richtig sein; so wie umgekehrt, wenn wirklich nach Lukas die Geburt Jesu durch einen Engel mittelst der Hir- ten der Gegend von Bethlehem bekannt gemacht worden war, es irrig sein muss, dass Matthäus erst später durch die Magier die erste Kunde davon in das nur 2--3 Stun-
Viertes Kapitel. §. 30.
deuten wissen. Beide Theile werden nach Bethlehem ge- wiesen: die Hirten durch die Worte des Engels selbst; die Magier nach eingezogener Erkundigung in Jerusalem, und beide huldigen dem Kinde: die Hirten durch Lobgesänge, die sie anstimmen, die Magier durch kostbare Geschenke aus ihrer orientalischen Heimath. Aber von hier an begin- nen die beiden Erzählungen bedeutender zu divergiren. Bei Lukas geht Alles heiter aus: die Hirten kehren freu- dig wieder um, und dem Kinde geschieht kein Leid, son- dern es kann zur gehörigen Zeit im Tempel dargestellt werden, und wächst sofort im Frieden auf; bei Matthäus hingegen nimmt die Sache eine tragische Wendung: da veranlaſst die Nachfrage der Magier in Jerusalem nach dem neugeborenen Judenkönig einen Mordbefehl des He- rodes gegen die Kinder zu Bethlehem, welchem das Je- suskind nur durch schleunige Flucht in das benachbarte Ägypten entzogen wird, von wo es mit den Eltern erst nach des Herodes Tode wieder in das heilige Land zu- rückkehrt.
Wir haben also hier eine doppelte Introduktion des messianischen Kindes, welche wir so stellen könnten, daſs die eine, durch den Engel, bei Lukas, die Geburt des Messias der nächsten Nähe, die andre, durch den Stern, bei Matthäus, der weiten Ferne habe ankündigen sollen. Allein, da nach Matthäus die Geburt Jesu erst durch den Stern auch in der nächsten Nähe, in Jerusalem, bekannt wird: so kann, wenn diese Erzählung historisch ist, jene andre bei Lukas, nach welcher die Hirten, was ihnen als Sache des ganzen Volks verkündigt war (V. 10.), mit Preiſs gegen Gott weiter erzählten (V. 17. 20.), unmög- lich richtig sein; so wie umgekehrt, wenn wirklich nach Lukas die Geburt Jesu durch einen Engel mittelst der Hir- ten der Gegend von Bethlehem bekannt gemacht worden war, es irrig sein muſs, daſs Matthäus erst später durch die Magier die erste Kunde davon in das nur 2—3 Stun-
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Viertes Kapitel. §. 30.
deuten wissen. Beide Theile werden nach Bethlehem ge-
wiesen: die Hirten durch die Worte des Engels selbst; die
Magier nach eingezogener Erkundigung in Jerusalem, und
beide huldigen dem Kinde: die Hirten durch Lobgesänge,
die sie anstimmen, die Magier durch kostbare Geschenke
aus ihrer orientalischen Heimath. Aber von hier an begin-
nen die beiden Erzählungen bedeutender zu divergiren.
Bei Lukas geht Alles heiter aus: die Hirten kehren freu-
dig wieder um, und dem Kinde geschieht kein Leid, son-
dern es kann zur gehörigen Zeit im Tempel dargestellt
werden, und wächst sofort im Frieden auf; bei Matthäus
hingegen nimmt die Sache eine tragische Wendung: da
veranlaſst die Nachfrage der Magier in Jerusalem nach
dem neugeborenen Judenkönig einen Mordbefehl des He-
rodes gegen die Kinder zu Bethlehem, welchem das Je-
suskind nur durch schleunige Flucht in das benachbarte
Ägypten entzogen wird, von wo es mit den Eltern erst
nach des Herodes Tode wieder in das heilige Land zu-
rückkehrt.
Wir haben also hier eine doppelte Introduktion des
messianischen Kindes, welche wir so stellen könnten, daſs
die eine, durch den Engel, bei Lukas, die Geburt des
Messias der nächsten Nähe, die andre, durch den Stern,
bei Matthäus, der weiten Ferne habe ankündigen sollen.
Allein, da nach Matthäus die Geburt Jesu erst durch den
Stern auch in der nächsten Nähe, in Jerusalem, bekannt
wird: so kann, wenn diese Erzählung historisch ist, jene
andre bei Lukas, nach welcher die Hirten, was ihnen als
Sache des ganzen Volks verkündigt war (V. 10.), mit
Preiſs gegen Gott weiter erzählten (V. 17. 20.), unmög-
lich richtig sein; so wie umgekehrt, wenn wirklich nach
Lukas die Geburt Jesu durch einen Engel mittelst der Hir-
ten der Gegend von Bethlehem bekannt gemacht worden
war, es irrig sein muſs, daſs Matthäus erst später durch
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/245>, abgerufen am 22.11.2024.
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