Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Viertes Kapitel. §. 29. messianische Schwangerschaft vorzustellen, dass sie An-fangs selbst dem Joseph dieselbe nicht entdecken will: nun aber mit Einem Male so geschwätzig, dass sie, kaum an- gekommen, vor fremden Leuten die ganze Geschichte ihrer Erwartungen auskramt. Übrigens widerspricht die Annah- me, dass die Hirten durch Maria selbst schon vor ihrer Niederkunft von der Sache unterrichtet gewesen, auch dem weiteren Verfolg der Erzählung. Denn wie diese lautet, so bekommen die Hirten durch den erscheinenden Engel die erste Kunde von der Geburt des soter, und zum Zei- chen der Wahrheit dieser Kunde soll ihnen das neugebor- ne Kind in der Krippe dienen; hätten sie bereits durch Ma- ria etwas von dem nächstens zu gebärenden Messias ge- wusst: so wäre ihnen schon die Lichterscheinung ein se- meion für jene Aussage der Maria, und nicht erst das Fin- den des Kindes ein Zeichen für die Wahrhaftigkeit der Erscheinung gewesen. Auch das bleibt ein auffallendes Zu- sammentreffen, dass gerade in der Geburtsnacht Jesu eine so ausserordentliche Erscheinung sich zeigt 17); oder wenn nach Paulus dergleichen Phänomene in jenen Gegenden nicht selten sein sollen: so hat schon Schleiermacher dar- auf aufmerksam gemacht, dass, je gewöhnlicher sie daselbst waren, desto nothwendiger Hirten, gewohnt, einen grossen Theil des Jahrs im Freien zu übernachten, so weit mit denselben vertraut sein mussten, um sie nicht für himmli- sche Zeichen besonderer Begebenheiten zu halten 18). Dieser nach allen Seiten so schwierigen natürlichen 17) Gabler, a. a. O. S. 412. 18) Über den Lukas, S. 34. 19) Hebräische Mythologie, 2. Thl. S. 223 ff.
Viertes Kapitel. §. 29. messianische Schwangerschaft vorzustellen, daſs sie An-fangs selbst dem Joseph dieselbe nicht entdecken will: nun aber mit Einem Male so geschwätzig, daſs sie, kaum an- gekommen, vor fremden Leuten die ganze Geschichte ihrer Erwartungen auskramt. Übrigens widerspricht die Annah- me, daſs die Hirten durch Maria selbst schon vor ihrer Niederkunft von der Sache unterrichtet gewesen, auch dem weiteren Verfolg der Erzählung. Denn wie diese lautet, so bekommen die Hirten durch den erscheinenden Engel die erste Kunde von der Geburt des σωτὴρ, und zum Zei- chen der Wahrheit dieser Kunde soll ihnen das neugebor- ne Kind in der Krippe dienen; hätten sie bereits durch Ma- ria etwas von dem nächstens zu gebärenden Messias ge- wuſst: so wäre ihnen schon die Lichterscheinung ein ση- μεῖον für jene Aussage der Maria, und nicht erst das Fin- den des Kindes ein Zeichen für die Wahrhaftigkeit der Erscheinung gewesen. Auch das bleibt ein auffallendes Zu- sammentreffen, daſs gerade in der Geburtsnacht Jesu eine so ausserordentliche Erscheinung sich zeigt 17); oder wenn nach Paulus dergleichen Phänomene in jenen Gegenden nicht selten sein sollen: so hat schon Schleiermacher dar- auf aufmerksam gemacht, daſs, je gewöhnlicher sie daselbst waren, desto nothwendiger Hirten, gewohnt, einen groſsen Theil des Jahrs im Freien zu übernachten, so weit mit denselben vertraut sein muſsten, um sie nicht für himmli- sche Zeichen besonderer Begebenheiten zu halten 18). Dieser nach allen Seiten so schwierigen natürlichen 17) Gabler, a. a. O. S. 412. 18) Über den Lukas, S. 34. 19) Hebräische Mythologie, 2. Thl. S. 223 ff.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0237" n="213"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Viertes Kapitel</hi>. §. 29.</fw><lb/> messianische Schwangerschaft vorzustellen, daſs sie An-<lb/> fangs selbst dem Joseph dieselbe nicht entdecken will: nun<lb/> aber mit Einem Male so geschwätzig, daſs sie, kaum an-<lb/> gekommen, vor fremden Leuten die ganze Geschichte ihrer<lb/> Erwartungen auskramt. Übrigens widerspricht die Annah-<lb/> me, daſs die Hirten durch Maria selbst schon vor ihrer<lb/> Niederkunft von der Sache unterrichtet gewesen, auch dem<lb/> weiteren Verfolg der Erzählung. Denn wie diese lautet,<lb/> so bekommen die Hirten durch den erscheinenden Engel<lb/> die erste Kunde von der Geburt des σωτὴρ, und zum Zei-<lb/> chen der Wahrheit dieser Kunde soll ihnen das neugebor-<lb/> ne Kind in der Krippe dienen; hätten sie bereits durch Ma-<lb/> ria etwas von dem nächstens zu gebärenden Messias ge-<lb/> wuſst: so wäre ihnen schon die Lichterscheinung ein ση-<lb/> μεῖον für jene Aussage der Maria, und nicht erst das Fin-<lb/> den des Kindes ein Zeichen für die Wahrhaftigkeit der<lb/> Erscheinung gewesen. Auch das bleibt ein auffallendes Zu-<lb/> sammentreffen, daſs gerade in der Geburtsnacht Jesu eine<lb/> so ausserordentliche Erscheinung sich zeigt <note place="foot" n="17)"><hi rendition="#k">Gabler</hi>, a. a. O. S. 412.</note>; oder wenn<lb/> nach <hi rendition="#k">Paulus</hi> dergleichen Phänomene in jenen Gegenden<lb/> nicht selten sein sollen: so hat schon <hi rendition="#k">Schleiermacher</hi> dar-<lb/> auf aufmerksam gemacht, daſs, je gewöhnlicher sie daselbst<lb/> waren, desto nothwendiger Hirten, gewohnt, einen groſsen<lb/> Theil des Jahrs im Freien zu übernachten, so weit mit<lb/> denselben vertraut sein muſsten, um sie nicht für himmli-<lb/> sche Zeichen besonderer Begebenheiten zu halten <note place="foot" n="18)">Über den Lukas, S. 34.</note>.</p><lb/> <p>Dieser nach allen Seiten so schwierigen natürlichen<lb/> Erklärung gegenüber kündigte <hi rendition="#k">Bauer</hi> eine mythische Auf-<lb/> fassung an <note place="foot" n="19)">Hebräische Mythologie, 2. Thl. S. 223 ff.</note>, kam aber in der That keinen Schritt über<lb/> die natürliche Deutung hinaus, sondern wiederholte Zug<lb/> für Zug die <hi rendition="#k">Paulus</hi>'sche Auslegung. Mit Recht setzte <hi rendition="#k">Gab-</hi><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [213/0237]
Viertes Kapitel. §. 29.
messianische Schwangerschaft vorzustellen, daſs sie An-
fangs selbst dem Joseph dieselbe nicht entdecken will: nun
aber mit Einem Male so geschwätzig, daſs sie, kaum an-
gekommen, vor fremden Leuten die ganze Geschichte ihrer
Erwartungen auskramt. Übrigens widerspricht die Annah-
me, daſs die Hirten durch Maria selbst schon vor ihrer
Niederkunft von der Sache unterrichtet gewesen, auch dem
weiteren Verfolg der Erzählung. Denn wie diese lautet,
so bekommen die Hirten durch den erscheinenden Engel
die erste Kunde von der Geburt des σωτὴρ, und zum Zei-
chen der Wahrheit dieser Kunde soll ihnen das neugebor-
ne Kind in der Krippe dienen; hätten sie bereits durch Ma-
ria etwas von dem nächstens zu gebärenden Messias ge-
wuſst: so wäre ihnen schon die Lichterscheinung ein ση-
μεῖον für jene Aussage der Maria, und nicht erst das Fin-
den des Kindes ein Zeichen für die Wahrhaftigkeit der
Erscheinung gewesen. Auch das bleibt ein auffallendes Zu-
sammentreffen, daſs gerade in der Geburtsnacht Jesu eine
so ausserordentliche Erscheinung sich zeigt 17); oder wenn
nach Paulus dergleichen Phänomene in jenen Gegenden
nicht selten sein sollen: so hat schon Schleiermacher dar-
auf aufmerksam gemacht, daſs, je gewöhnlicher sie daselbst
waren, desto nothwendiger Hirten, gewohnt, einen groſsen
Theil des Jahrs im Freien zu übernachten, so weit mit
denselben vertraut sein muſsten, um sie nicht für himmli-
sche Zeichen besonderer Begebenheiten zu halten 18).
Dieser nach allen Seiten so schwierigen natürlichen
Erklärung gegenüber kündigte Bauer eine mythische Auf-
fassung an 19), kam aber in der That keinen Schritt über
die natürliche Deutung hinaus, sondern wiederholte Zug
für Zug die Paulus'sche Auslegung. Mit Recht setzte Gab-
17) Gabler, a. a. O. S. 412.
18) Über den Lukas, S. 34.
19) Hebräische Mythologie, 2. Thl. S. 223 ff.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |