galiläischen Nazaret in das judäische Bethlehem rufen. Denn nur Judäa und was sonst zum Antheil des Archelaus ge- hört hatte, wurde römische Provinz und dem Census un- terworfen; in Galiläa blieb Herodes Antipas als verbünde- ter Fürst, und diesem konnte kein in Nazaret Angesesse- ner zur Schatzung nach Bethlehem gezogen werden. Da hienach unser Schriftsteller, um eine Schatzung zu bekom- men, die Verhältnisse sich so denkt, wie sie nach Arche- laus Absetzung waren, zugleich aber, um den Census auch für Galiläa gültig zu machen, das ungetheilte Reich, wie es unter Herodes d. Gr. war, voraussezt: so sezt er offen- bar Widersprechendes voraus, oder vielmehr er hat über- haupt nur eine äusserst trübe Vorstellung von den Zeitver- hältnissen, indem er ja, wie wir uns erinnern müssen, die Schatzung nicht blos auf ganz Palästina, sondern selbst auf die ganze römische Welt sich erstrecken lässt.
Indess, mit diesen chronologischen Anstössen sind die Schwierigkeiten der Angabe des Lukas noch nicht erschöpft, sondern es liegen dergleichen auch noch in der Art, wie nach ihm die Schatzung vorgenommen worden sein soll. Es heisst nämlich erstens, der Schatzung wegen sei Jeder gereist eis ten idian polin, d. h. nach dem Zusammenhang an den Ort, wo sein Geschlecht ursprünglich herstammte. Diess nun, dass Jeder in seinem Stammorte sich einschrei- ben lassen musste, fand allerdings statt bei jüdischen Auf- zeichnungen, weil bei den Juden die Familien- und Stamm- Verfassung die Grundlage des Staates bildete; die Römer hingegen zogen bei den ihnen unterworfenen Völkerschaf- ten dergleichen Particularitäten nicht in Betracht, sondern nahmen den Census in den Wohnorten und Bezirkshaupt- städten vor 23). Dass aber die Römer, um weniger Anstoss bei den Juden zu erregen, die Form der jüdischen Ein- schreibungen beibehalten hätten, lässt sich nicht denken,
23) S. Paulus a. a. O. S. 178.
Viertes Kapitel. §. 28.
galiläischen Nazaret in das judäische Bethlehem rufen. Denn nur Judäa und was sonst zum Antheil des Archelaus ge- hört hatte, wurde römische Provinz und dem Census un- terworfen; in Galiläa blieb Herodes Antipas als verbünde- ter Fürst, und diesem konnte kein in Nazaret Angesesse- ner zur Schatzung nach Bethlehem gezogen werden. Da hienach unser Schriftsteller, um eine Schatzung zu bekom- men, die Verhältnisse sich so denkt, wie sie nach Arche- laus Absetzung waren, zugleich aber, um den Census auch für Galiläa gültig zu machen, das ungetheilte Reich, wie es unter Herodes d. Gr. war, voraussezt: so sezt er offen- bar Widersprechendes voraus, oder vielmehr er hat über- haupt nur eine äusserst trübe Vorstellung von den Zeitver- hältnissen, indem er ja, wie wir uns erinnern müssen, die Schatzung nicht blos auf ganz Palästina, sondern selbst auf die ganze römische Welt sich erstrecken läſst.
Indeſs, mit diesen chronologischen Anstöſsen sind die Schwierigkeiten der Angabe des Lukas noch nicht erschöpft, sondern es liegen dergleichen auch noch in der Art, wie nach ihm die Schatzung vorgenommen worden sein soll. Es heiſst nämlich erstens, der Schatzung wegen sei Jeder gereist εἰς τὴν ἰδίαν πόλιν, d. h. nach dem Zusammenhang an den Ort, wo sein Geschlecht ursprünglich herstammte. Dieſs nun, daſs Jeder in seinem Stammorte sich einschrei- ben lassen muſste, fand allerdings statt bei jüdischen Auf- zeichnungen, weil bei den Juden die Familien- und Stamm- Verfassung die Grundlage des Staates bildete; die Römer hingegen zogen bei den ihnen unterworfenen Völkerschaf- ten dergleichen Particularitäten nicht in Betracht, sondern nahmen den Census in den Wohnorten und Bezirkshaupt- städten vor 23). Daſs aber die Römer, um weniger Anstoſs bei den Juden zu erregen, die Form der jüdischen Ein- schreibungen beibehalten hätten, läſst sich nicht denken,
23) S. Paulus a. a. O. S. 178.
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Viertes Kapitel. §. 28.
galiläischen Nazaret in das judäische Bethlehem rufen. Denn
nur Judäa und was sonst zum Antheil des Archelaus ge-
hört hatte, wurde römische Provinz und dem Census un-
terworfen; in Galiläa blieb Herodes Antipas als verbünde-
ter Fürst, und diesem konnte kein in Nazaret Angesesse-
ner zur Schatzung nach Bethlehem gezogen werden. Da
hienach unser Schriftsteller, um eine Schatzung zu bekom-
men, die Verhältnisse sich so denkt, wie sie nach Arche-
laus Absetzung waren, zugleich aber, um den Census auch
für Galiläa gültig zu machen, das ungetheilte Reich, wie
es unter Herodes d. Gr. war, voraussezt: so sezt er offen-
bar Widersprechendes voraus, oder vielmehr er hat über-
haupt nur eine äusserst trübe Vorstellung von den Zeitver-
hältnissen, indem er ja, wie wir uns erinnern müssen, die
Schatzung nicht blos auf ganz Palästina, sondern selbst
auf die ganze römische Welt sich erstrecken läſst.
Indeſs, mit diesen chronologischen Anstöſsen sind die
Schwierigkeiten der Angabe des Lukas noch nicht erschöpft,
sondern es liegen dergleichen auch noch in der Art, wie
nach ihm die Schatzung vorgenommen worden sein soll.
Es heiſst nämlich erstens, der Schatzung wegen sei Jeder
gereist εἰς τὴν ἰδίαν πόλιν, d. h. nach dem Zusammenhang
an den Ort, wo sein Geschlecht ursprünglich herstammte.
Dieſs nun, daſs Jeder in seinem Stammorte sich einschrei-
ben lassen muſste, fand allerdings statt bei jüdischen Auf-
zeichnungen, weil bei den Juden die Familien- und Stamm-
Verfassung die Grundlage des Staates bildete; die Römer
hingegen zogen bei den ihnen unterworfenen Völkerschaf-
ten dergleichen Particularitäten nicht in Betracht, sondern
nahmen den Census in den Wohnorten und Bezirkshaupt-
städten vor 23). Daſs aber die Römer, um weniger Anstoſs
bei den Juden zu erregen, die Form der jüdischen Ein-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/229>, abgerufen am 24.11.2024.
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