Was in dieser Erklärung des Vorgangs stecke, hat schon Gabler in einer Recension des Paulus'schen Com- mentars 8) mit angemessener Derbheit an's Licht gezogen, indem er geradezu sagt, bei der Ansicht von Paulus blei- be nichts Andres zu denken übrig, als dass sich Jemand für den Engel Gabriel ausgegeben, und als angeblicher Got- tesbote selbst die Maria beschlafen habe, um den Messias mit ihr zu erzeugen. Und das, fragt Gabler, wenn Ma- ria zu einer Zeit, da sie schon verlobt ist, von einem An- dern schwanger wird, soll eine unsündliche gottgefällige Weise, eine vorwurflose heilige Wirksamkeit heissen? Ma- ria erschiene hier als eine fromme Schwärmerin, und der angebliche Gottesbote entweder als ein Betrüger, oder auch als ein grober Schwärmer. Mit Recht findet der genannte Theologe vom christlichem Standpunkt aus eine solche Be- hauptung empörend, und auf dem rein-kritischen muss man sie der Absicht der Berichte ganz widersprechend finden, welche die fleckenlose Reinheit dieses ganzen Verhältnis- ses voraussetzen.
Als der würdigste Dolmetscher von Paulus aber ist hier der Verfasser der natürlichen Geschichte des grossen Propheten von Nazaret zu betrachten, welcher, wenn er auch bei Abfassung dieses Theils von seinem Werke den Paulus'schen Commentar noch nicht benutzen konnte, doch ganz in dessen Geiste, was dieser noch behutsam mit einem Schleier verhüllt, ohne Scheue aufdeckt. Er vergleicht ei- ne Erzählung bei Josephus 9), nach welcher eben im Zeit- alter Jesu ein römischer Ritter die keusche Gattin eines edeln Römers dadurch für seine Wünsche gewann, dass er sie durch einen Isispriester in den Tempel dieser Göttin unter dem Vorwand laden liess, der Gott Anubis begehre
8) Im neuesten theol. Journal 7. Bd. 4. Stück. S. 407 f. Vgl. Bauer, hebr. Mythol. 1, S. 192. e ff.
9) Antiq. 18, 3, 4.
Erster Abschnitt.
Was in dieser Erklärung des Vorgangs stecke, hat schon Gabler in einer Recension des Paulus'schen Com- mentars 8) mit angemessener Derbheit an's Licht gezogen, indem er geradezu sagt, bei der Ansicht von Paulus blei- be nichts Andres zu denken übrig, als daſs sich Jemand für den Engel Gabriel ausgegeben, und als angeblicher Got- tesbote selbst die Maria beschlafen habe, um den Messias mit ihr zu erzeugen. Und das, fragt Gabler, wenn Ma- ria zu einer Zeit, da sie schon verlobt ist, von einem An- dern schwanger wird, soll eine unsündliche gottgefällige Weise, eine vorwurflose heilige Wirksamkeit heiſsen? Ma- ria erschiene hier als eine fromme Schwärmerin, und der angebliche Gottesbote entweder als ein Betrüger, oder auch als ein grober Schwärmer. Mit Recht findet der genannte Theologe vom christlichem Standpunkt aus eine solche Be- hauptung empörend, und auf dem rein-kritischen muſs man sie der Absicht der Berichte ganz widersprechend finden, welche die fleckenlose Reinheit dieses ganzen Verhältnis- ses voraussetzen.
Als der würdigste Dolmetscher von Paulus aber ist hier der Verfasser der natürlichen Geschichte des groſsen Propheten von Nazaret zu betrachten, welcher, wenn er auch bei Abfassung dieses Theils von seinem Werke den Paulus'schen Commentar noch nicht benutzen konnte, doch ganz in dessen Geiste, was dieser noch behutsam mit einem Schleier verhüllt, ohne Scheue aufdeckt. Er vergleicht ei- ne Erzählung bei Josephus 9), nach welcher eben im Zeit- alter Jesu ein römischer Ritter die keusche Gattin eines edeln Römers dadurch für seine Wünsche gewann, daſs er sie durch einen Isispriester in den Tempel dieser Göttin unter dem Vorwand laden lieſs, der Gott Anubis begehre
8) Im neuesten theol. Journal 7. Bd. 4. Stück. S. 407 f. Vgl. Bauer, hebr. Mythol. 1, S. 192. e ff.
9) Antiq. 18, 3, 4.
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Erster Abschnitt.
Was in dieser Erklärung des Vorgangs stecke, hat
schon Gabler in einer Recension des Paulus'schen Com-
mentars 8) mit angemessener Derbheit an's Licht gezogen,
indem er geradezu sagt, bei der Ansicht von Paulus blei-
be nichts Andres zu denken übrig, als daſs sich Jemand
für den Engel Gabriel ausgegeben, und als angeblicher Got-
tesbote selbst die Maria beschlafen habe, um den Messias
mit ihr zu erzeugen. Und das, fragt Gabler, wenn Ma-
ria zu einer Zeit, da sie schon verlobt ist, von einem An-
dern schwanger wird, soll eine unsündliche gottgefällige
Weise, eine vorwurflose heilige Wirksamkeit heiſsen? Ma-
ria erschiene hier als eine fromme Schwärmerin, und der
angebliche Gottesbote entweder als ein Betrüger, oder auch
als ein grober Schwärmer. Mit Recht findet der genannte
Theologe vom christlichem Standpunkt aus eine solche Be-
hauptung empörend, und auf dem rein-kritischen muſs man
sie der Absicht der Berichte ganz widersprechend finden,
welche die fleckenlose Reinheit dieses ganzen Verhältnis-
ses voraussetzen.
Als der würdigste Dolmetscher von Paulus aber ist
hier der Verfasser der natürlichen Geschichte des groſsen
Propheten von Nazaret zu betrachten, welcher, wenn er
auch bei Abfassung dieses Theils von seinem Werke den
Paulus'schen Commentar noch nicht benutzen konnte, doch
ganz in dessen Geiste, was dieser noch behutsam mit einem
Schleier verhüllt, ohne Scheue aufdeckt. Er vergleicht ei-
ne Erzählung bei Josephus 9), nach welcher eben im Zeit-
alter Jesu ein römischer Ritter die keusche Gattin eines
edeln Römers dadurch für seine Wünsche gewann, daſs er
sie durch einen Isispriester in den Tempel dieser Göttin
unter dem Vorwand laden lieſs, der Gott Anubis begehre
8) Im neuesten theol. Journal 7. Bd. 4. Stück. S. 407 f. Vgl.
Bauer, hebr. Mythol. 1, S. 192. e ff.
9) Antiq. 18, 3, 4.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/194>, abgerufen am 24.11.2024.
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